Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

"Es gibt keinen Grund zur Panik"

2. Oktober 2024
von Sabine Cronau

Neun Monate hat die Branche noch Zeit, um E-Books und Webshops barrierefrei zu gestalten. Susanne Barwick und Kristina Kramer über Baustellen und hilfreiche Tools des Börsenvereins.

Der 28. Juni 2025 ist nicht mehr lang hin – bis dahin müssen E-Books und E-Commerce-Webseiten barrierefrei gestaltet sein. Haben Sie einen Last-Minute-Tipp für alle, die bislang noch nicht so richtig dazu gekommen sind, sich mit dem Thema zu befassen?

Susanne Barwick: Das Datum, an dem das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Kraft tritt, rückt in der Tat immer näher. Aller­dings ist das Gesetz schon am 22. Juli 2022 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht ­worden, es gab also genügend Zeit, sich mit den Anforderungen zu beschäftigen.

Dank der Taskforce Barrierefreiheit, die seit ­Dezember 2020 arbeitet, gab es gerade in unserer Branche auch frühzeitig Informa­tionen und Austausch. Es sind zwar noch nicht alle technischen und rechtlichen ­Fragen geklärt, aber das liegt in der Natur der Sache; es handelt sich eben um ein ganz neues Gesetz. Unser Ratschlag ist daher, einfach mal mit der Umsetzung der Anforderungen anzufangen.

Kristina Kramer: Schauen Sie hierfür unbedingt auf der Website der Taskforce vorbei. Die ausführlichen FAQs geben einen guten Einstieg und fassen den Stand der Dinge zusammen. Leitfäden bieten dann die Möglichkeit, weiter ins Thema einzusteigen und die zentralen Anforderungen des neuen Gesetzes und die Umsetzung nachzuvollziehen.

Alle, die noch ganz am Anfang stehen, wollen wir jedenfalls dazu ermuntern, nicht in Panik zu verfallen: Benennen Sie im Haus eine Verantwortliche oder einen Verantwortlichen für das Thema, schauen Sie auf unserer Website vorbei, sprechen Sie mit Kolleg:innen aus anderen Häusern, treten Sie mit Ihren Dienstleistern in Kontakt und informieren Sie sich bei den Kompetenzzentren wie dzb lesen und blista über Sensibilisierungsangebote.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

  • Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, im Juni 2022 verabschiedet, setzt den ­European Accessibility Act von Dezember 2019 um.
  • Ab dem 28. Juni 2025 müssen Webshops, E-Books und E-Reader barrierefrei gestaltet sein – damit Menschen mit Beeinträchtigungen sie ohne Abstriche mithilfe ­assistiver Technologien nutzen können.
  • Ausnahmen: Kleinstunternehmen mit ­weniger als zehn Beschäftigten und ­höchstens zwei Millionen Euro Jahres­umsatz sind von der Neuregelung in Bezug auf Dienst­leistungen ausgenommen.
  • Zudem gelten die Anforderungen nur dann, wenn sie die Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung nicht wesentlich verändern und zu keiner unverhältnis­mäßigen Belastung der Wirtschaftsakteure führen. Das muss im Einzelfall dokumentiert und begründet werden.
  • Eine Taskforce des Börsenvereins bündelt seit 2020 die Expertise aus Verlagen, Buchhandel und Zwischenbuchhandel und entwickelt Lösungen für die gesamte Branche. Leitfäden, Tipps & Tools gibt es unter boersenverein.de/barrierefreiheit.

Die Anfragen bei uns in der Rechtsabteilung des Börsenvereins steigen, viele Unternehmen bereiten sich also vor.

Susanne Barwick, stv. Justiziarin des Börsenvereins

Mehr als 7 von 10 europäischen ­Verlagen sind sich der Anforderungen des European Accessibility Acts bewusst.

 

Kristina Kramer, beim Börsenverein stv. Direktorin für europäische und internationale Angelegenheiten

Wie weit ist die Branche mit dem Umstellungsprozess? Haben Sie einen Überblick?

Susanne Barwick: Dazu kann ich nur sagen, dass die Anfragen bei uns in der Rechtsabteilung steigen, viele Unternehmen bereiten sich also vor, was ja auch gut und richtig ist.

Kristina Kramer: Das Bewusstsein für das Thema ist sehr gewachsen, das merkt man allein daran, dass es mittlerweile selbstverständlicher Teil jeder Tagesordnung ist – ob bei den unterschiedlichen Gremiensitzungen des Börsenvereins und seiner Landesverbände oder auch beim Zukunftsparlament. Die Branche ist auf einem guten Weg und erkennt die Verantwortung bei dem Thema.

Das zeigt auch eine Umfrage, die im Rahmen des EU-­Förderprojekts Apace durchgeführt ­wurde:

  • Mehr als sieben von zehn europäischen ­Verlagen sind sich der Anforderungen des European Accessibility Acts bewusst.
  • 52 Prozent der befragten Kleinstunternehmen beschäftigen sich mit dem Thema, obwohl sie von der gesetzlichen Verpflichtung ausgenommen wären.
  • Es besteht ein starkes Interesse an speziellen Schulungen zur Barrierefreiheit – von alternativen Bildbeschreibungen bis hin zum richtigen Umgang mit Metadaten.

In Frankreich gibt es ein Dekret, wonach eine Übergangsfrist bis zum 28. Juni 2030 gilt. Ob dies auch eine gangbare Interpretation für Deutschland ist, ­eruieren wir derzeit.

Susanne Barwick

Eine Frage, die Verlage beschäftigt: Steht inzwischen fest, ob auch die Backlist zum Stichtag umgestellt sein muss?

Susanne Barwick: Wir konnten diesbezüglich bislang weder in die eine noch in die andere Richtung eine Klarstellung durch den Gesetzgeber erreichen. Letztlich ist dies daher eine Frage, die irgendwann der ­Europäische Gerichtshof klären müsste.

Es gibt aus meiner Sicht gute Argumente dafür, dass die Backlist nicht erfasst ist (Details dazu in unserem FAQ, Unterpunkt 1.17), allerdings muss man sagen, dass die meisten EU-Länder und die EU-Kommission davon ausgehen, dass auch die Backlist bis zum Stichtag umgestellt werden muss. In Frankreich wiederum gibt es ein Dekret, wonach eine Übergangsfrist bis zum 28. Juni 2030 gilt.

Hier bezieht sich Frankreich auf Artikel 32 des European ­Accessibility Act. Ob dies auch eine gangbare Interpretation für Deutschland ist, ­eruieren wir derzeit und führen dies­bezüglich Gespräche.

Es gäbe gute Möglichkeiten, auch bei der Backlist-Umwandlung, die Branche auf einfache aber hilfreiche Art zu unterstützen – mit dem gemeinsamen Ziel, Teilhabe zu fördern.

Kristina Kramer

Was sollen, was können Verlage tun, um auf der sicheren Seite zu sein?

Susanne Barwick: Aus meiner Sicht sollten Verlage in jedem Fall dafür sorgen, dass die neuen Titel ab dem 28. Juni 2025 barrierefrei sind. Zudem sollten sie prüfen, inwiefern es technisch machbar ist (gegebenenfalls auch schrittweise oder in Abhängigkeit vom Erfolg eines Titels), die Backlist umzuwandeln, und dabei das rechtliche Risiko abschätzen. Sollte eine Umwandlung faktisch nicht möglich sein, sollte der Aufwand dokumentiert werden. Möglich wäre dann, sich auf die Ausnahme der Unverhältnis­mäßigkeit zu berufen oder sich die französische Interpretation des Artikels 32 des European Accessibility Act zu eigen zu machen.

Kristina Kramer: Ein großes Thema, das wir diskutieren und das auch in der erwähnten APACE-Umfrage zur Sprache kommt, ist, wie man sinnvolle nationale Förderprojekte aufsetzen kann. Es gäbe gute Möglichkeiten, auch bei der Backlist-Umwandlung, die Branche auf einfache aber hilfreiche Art zu unterstützen – mit dem gemeinsamen Ziel, Teilhabe zu fördern.

Hierzulande fehlt da bislang noch der politische Wille, doch in anderen Ländern gibt es Leuchtturmprojekte. Beispiel Kanada: Über den Canada Book Fund fließen Fördergelder in zweistelliger Millionenhöhe in verschiedene Barrierefreiheitsprojekte. Aber auch in den Niederlanden sind erste Förderprojekte erfolgreich angelaufen.

Da es sich um ein neues Gesetz handelt, zu dem es weder juristische Literatur noch Gerichtsurteile gibt, tauchen immer wieder Fragen auf, die wir nicht eindeutig beantworten können.

Susanne Barwick

Tauchen auf den letzten Metern vor dem Ziel neue Ungewissheiten und Problemfelder auf, die vorher übersehen wurden?

Susanne Barwick: Da es sich um ein neues Gesetz handelt, zu dem es weder juristische Literatur noch Gerichtsurteile gibt, tauchen immer wieder Fragen auf, die wir nicht eindeutig beantworten können. Wir können hier jeweils nur unsere eigene Interpretation des Gesetzestextes und die unserer euro­päischen Kolleg:innen weitergeben.

Was wir leider nicht machen können, ist, mit ­einer der zuständigen Behörden über unklare Rechtsfragen zu sprechen. Denn diese sind – anders als in anderen EU-Ländern – noch nicht eingesetzt. Dies geschieht auch erst am 28. Juni 2025. Wir stehen aber in Kontakt mit der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit, die die Beratung für Kleinstunternehmen übernehmen wird, und erhoffen uns hier auch noch weiteren Austausch.

EU-Projekt Apace

  • Das Kürzel Apace steht für ­»Accelerating Publishing ­Accessibility through Collaboration in Europe«.
  • Das EU-Projekt soll den europa­weiten Erfahrungsaustausch fördern – aber auch Pilotprojekte rund um die Produktion und den Vertrieb barrierefreier Verlagsprodukte.
  • Zu den sechs Partner­organisationen gehört auch der Börsenverein.
  • Zahlen, Leitfäden und Termine gibt es auf der Website europeanaccessibilitydirectory.eu
  • Ein Apace-Netzwerktreffen findet auf der Frankfurter Buchmesse statt (Mittwoch, 16. Oktober, 14 – 16 Uhr, Halle 4.C, Raum Entente)

Wie kann und wird die Taskforce Barriere­freiheit die Branche in den kommenden Wochen und Monaten noch unterstützen?

Kristina Kramer: Die Taskforce ist sehr engagiert und voller Tatendrang. Die Leitfäden wer­den ständig auf Aktualität geprüft und da, wo es Sinn hat, überarbeitet. Es kommen neue Papiere hinzu, kürzlich etwa das Best-Practice-Papier zum zentralen Thema Meta­daten (mehr dazu hier und hier) und ganz frisch ein Exkurspapier zum neuen PDF/UA2-Standard, das dem Leitfaden PDF zur Seite gestellt wurde (mehr dazu hier).

Weiterhin sind gefragte Webinare beim ­Mediacampus im Angebot (mehr dazu hier) und das ambitionierte EU-­Projekt Apace weitet den Blick auf gemeinsame europäische Herausforderungen und Herangehensweisen. Erste Webinare haben dazu schon stattgefunden, weitere Angebote folgen. Die dazugehörige Website bietet zudem weitere Materialien (mehr dazu hier).

Susanne Barwick: Der Börsenverein wiederum wird weiterhin die FAQs ergänzen, wenn sich Fragen stellen oder klären. Auf europäischer Ebene gibt es zum Beispiel eine Arbeitsgruppe, um die Kriterien der Unverhältnismäßigkeit verständlicher zu machen. Sobald es ein Ergebnis gibt, werden wir dieses übersetzen und veröffentlichen.

Kristina Kramer: Die Frankfurter Buchmesse steht vor der Tür, allen Interessierten sei der Messemittwoch ans Herz gelegt. An dem Tag werden viele Veranstaltungen zum Thema stattfinden. Und die Fondazione LIA wird im Rahmen des ­Ehrengastauftritts Italiens jeden Tag ein »Reading in the Dark« anbieten. Das sollte man sich nicht entgehen lassen.

Buchmesse-Termine

The Accessibility Era – Are you ready for it?
Seminar mit
Elisa Molinari (Fondazione LIA / APACE),
Simon Holt (Elsevier UK),
Alessandra Porcelli (Mondadori)

Mittwoch, 16. Oktober, 13 – 14 Uhr
Frankfurt Studio, Foyer Halle 4.0, Raum Europa

Barrierefreiheit und digitale Bildungsmedien
Fachgespräch mit
Susanne Barwick und Kristina Kramer (Börsenverein),
Thomas Kahlisch (dzb lesen) und
Sven Niklas (Bundesfachstelle Barrierefreiheit)
Mittwoch, 16. Oktober, 15.30 Uhr,
Forum Bildung, Halle 3.1, D 12

Die Frankfurter Buchmesse steht vor der Tür, allen Interessierten sei der Messemittwoch ans Herz gelegt. An dem Tag werden viele Veranstaltungen zum Thema stattfinden.

Kristina Kramer

Gibt es inzwischen bei illustrierten ­Büchern Erfahrungswerte, ob die ­Ausnahmeregelungen hier greifen?

Susanne Barwick: Da wir es mit einem neuen Gesetz zu tun haben, gibt es keine echten ­Erfahrungswerte. Diese können sich erst im Laufe der Zeit bilden, wenn es erste Urteile und Entscheidungen von Behörden gibt. Es lässt sich aber mit Sicherheit sagen, dass es keine pauschalen Ausnahmen für bestimmte Bücher oder Genres gibt.

Bei Comics, Kunstbüchern, Wimmelbüchern und stark illustrierten Kinderbüchern kommen aber natürlich die Ausnahmen »grundlegende Veränderung der Wesensmerkmale« oder »unverhältnismäßige Belastung« in Betracht. In beiden Fällen muss der Verlag eine Prüfung vornehmen, ob die Ausnahme vorliegt, dies dokumentieren und der zuständigen Behörde vorlegen und zum Beispiel über die Metadaten auch die Kunden über den Grund der Nicht-Barrierefreiheit informieren.

Jeder Verlag sollte aber prüfen, ob es nicht gegebenenfalls weniger aufwendig ist, Alternativtexte anzubringen. Denn es ist nicht so, dass ein Wimmelbild oder ein Kunstwerk detailliert beschrieben werden muss. Wie Alternativtexte aussehen sollten, dazu finden sich Hinweise in unseren FAQ oder unter dem Kurzlink bit.ly/daisyAlternativtexte.

Kristina Kramer: Empfehlenswert sind auch die ­Mediacampus-Webinare, die von dzb lesen und der blista Marburg konzipiert ­wurden (mehr dazu hier) – und die Tipps auf Börsenblatt online unter dem Kurzlink bit.ly/bblAlternativtexte.