Kolumne: Martin Schult über Krieg und Briefe

"Neulich in der Jammerbremse...

9. Mai 2022
von Börsenblatt

... retteten wir die Welt": Martin Schult, Autor und beim Börsenverein Referent für den Friedenspreis, über einen Kneipenabend in Kriegszeiten - und eine wunderbare Idee für den Weltfrieden, die sich wie Zigarettenrauch verflüchtigt hat.

Rein fiktiv? Berliner Nächte in der "Jammerbremse"

'Ick rette dir auch gleich mal wat!', ruft jemand zurück und knallt mit seinem Fenster.

»Lass es«, sagt mein Kumpel am Ende eines feuchten, aber nicht immer fröhlichen Abends. »Das gibt ’n Shitstorm, den kannste dir nicht vorstellen!«

»Aber das kann die Welt retten!«, rufe ich vom Bürgersteig aus dem nächtlichen Berlin zu.

»Ick rette dir auch gleich mal wat!«, ruft jemand zurück und knallt mit seinem Fenster.

»Siehste. Will keiner hören. Ist ja auch Schwachsinn. Morgen, wenn du wieder nüchtern bist, wirst du das auch merken.« Mein Kumpel torkelt los, Richtung Bett, ich aber halte ihn auf.

»Weißt du was? Ich glaube, ich hab‘s … vergessen.«

Die nächsten fünf Minuten geben wir uns unendlich viel Mühe, aber vergeblich. Der Zauber einer wunderbaren Idee, nämlich für Frieden auf der Welt zu sorgen, verflüchtigt sich wie der Rauch unserer Zigaretten in der frühsommerlich warmen Nachtluft.

»Komm, wir gehen noch mal rein«, schlage ich meinem Kumpel vor, »und fragen Manni. Der erinnert sich bestimmt.«

»Der wird uns was husten«, sagt mein Kumpel. »Weißt du, wie spät es ist?«

Doch da klopfe ich schon an die Tür zur Jammerbremse, die der Wirt eben hinter uns zugesperrt hat.

'‘N Zehner pro Flasche, dann bin ick dabei.'
'Kapitalist', sagt mein Kumpel.

Was Manni mag: uns ein Bier nach dem anderen einschenken. Was Manni nicht mag: uns nach Feierabend ein Bier nach dem anderen einschenken.

»Jetzt hab‘ dich nicht so«, versuche ich seine Sturheit zu brechen, mit der er die Tür nur einen Spalt breit geöffnet hat. »Wir zahlen auch das Doppelte.«

»Siehste det?«, fragt er, öffnet die Tür ein wenig mehr und zeigt auf den Tresen. »Blitzeblank geputzt. Den mach ick heut nich noch mal sauber.«

»Dann trinken wir halt Flaschenbier.« Ich versuche, mich an ihm vorbeizudrücken. »Ok, das Dreifache.«

»‘N Zehner pro Flasche, dann bin ick dabei.«

»Kapitalist«, sagt mein Kumpel.

»Gefahrenzulage«, sagt Manni. Er lässt uns rein und holt zwei Flaschen aus dem Kühlschrank. »Ick kenn euch Schnackeltüten doch. Einmal am Tresen festgequatscht, und ick bekomm euch vor Sonnenaufgang nicht raus. N‘ Glas dazu kostet ‘n Fünfer extra.«

Wir stoßen lieber mit den Flaschenhälsen an. Manni trinkt was Alkoholfreies und erinnert sich.

'Europa, habe ich gesagt', sagt mein Kumpel. 'Ich würde Europa verteidigen.'

Es habe mit den beiden offenen Briefen angefangen, beginnt er. »Du warst der Meinung, dass die Alice Schwarzer aus Versehen den falschen Brief veröffentlicht hat. Den von vor dem Krieg. Und dein Kumpel hat gemeint, dass er einfach beide Briefe unterschrieben hätte. Meinungsvielfalt wär‘ wichtig, hat er gemeint. Und icke …«

Mein Kumpel und ich schauen ihn an. Manni lächelt.

»Ick hab gesagt, über den Krieg darf man keene Witze machen. Da sterben Tausende von Menschen und ihr diskutiert über Briefe.«

»Stimmt«, gibt mein Kumpel zu, »aber das war kein Witz. Ich weiß wirklich nicht, welcher Brief besser ist. Ich habe noch nie über einen Krieg vor der eigenen Haustür nachgedacht, da darf man ja wohl noch seine Meinung ändern.«

»Ändern ja«, sage ich. »Aber du hast ja beide unterschrieben.«

»Genau das haste vorhin auch gesagt.« Manni schaut auf unsere Flaschen, aber die sind noch halbvoll. »Und dann seid ihr doch zusammen in den Krieg gezogen.«

»Quatsch!«, ruft mein Kumpel.

»Stimmt doch gar nicht!«, rufe ich.

»‘Türlich stimmt det. Ick hab euch gefragt, was ihr tun würdet, wenn die Russen hier in Deutschland einmarschieren. Und? Beide habt ihr zugegeben, dass ihr dann det Land verteidigen wollt.«

»Europa, habe ich gesagt«, sagt mein Kumpel. »Ich würde Europa verteidigen.« 

»Als Sanitäter«, sage ich, »das kann ich nämlich: Zivildienst ’88 als Schwesternhelfer im Markuskrankenhaus. Ich habe nämlich noch niemals eine Waffe …« Ich verstumme. Denn ich erinnere mich plötzlich, was er uns danach gefragt hat. »Bitte nicht schon wieder, Manni. Nicht wieder die Geschichte über deine missglückte Totalverweigerung.«

Denn die hat er uns vorhin erzählt. Er habe sich auf die übliche Frage vorbereitet: Was würden Sie tun, wenn Sie das Leben Ihrer Mutter nur dadurch retten können, indem Sie den, der sie töten will, erschießen? Doch der Richter habe ihm eine andere Frage gestellt: Da hat einer zehn Menschen in seiner Gewalt. Zwei davon hat er bereits getötet. Sie könnten die anderen acht retten, indem Sie ihn erschießen. Würden Sie das tun?   

»Waren dann zum Glück nur zwölf Monate beim Bund«, sagt Manni wie vorhin, »und die hab ick fast nur inner Schreibstube verbracht.«

»Aber das war ja nur eine hypothetische Frage. Würde, würde, Fahrradkette.« Mein Kumpel trinkt sein Bier aus. »Der Putin kann mit seiner lächerlichen Armee ja noch nicht mal die Ukraine …«

»Vorsicht!« Manni klopft auf den Tresen. »Über den Krieg macht man keene Witze. Nicht hier in der Jammerbremse. Da sterben Menschen.«

»Hast ja recht. Aber sag, kann man bei dir auch mit Karte …?«

'Und was heißt ächten?', frage ich. 'Krieg? Sanktionen? Waffenlieferungen? Oder nur ein Zeigefinger? Du, du, du …?'

»Gut. Wir würden also in den Krieg ziehen.« Mein Bier ist jetzt auch leer. »Aber über was haben wir danach gesprochen?«

Manni stellt zwei volle Flaschen vor uns. »Dein Kumpel wollte die Nato reformieren und die Weltgemeinschaft verpflichten, sich an alle humanitären Regeln zu halten. Wer sie bricht, wird geächtet.« 

»Ja«, gibt mein Kumpel zu, »das klingt doch gut.« 

»Und was heißt ächten?«, frage ich. »Krieg? Sanktionen? Waffenlieferungen? Oder nur ein Zeigefinger? Du, du, du …?«

»Sei nicht so negativ. Da fällt uns schon noch was ein.«

Manni grinst. »Jetzt hab ick wirklich ‘n Deschawü. Genau derselbe Dialog. Is wohl bald mal ‘ne Runde fällig.« Er dreht sich um und holt drei Schnapsgläser aus’m Regal. »Und du wolltest aus der Zukunft zurückschauen …«, sagt er zu mir.

»Stimmt, aber das habe ich vorhin schon nicht verstanden«, sagt mein Kumpel.

Ich würde es ihm gerne nochmal erklären, aber ich habe keine Ahnung, was ich gesagt haben könnte. »Hilf mir«, bitte ich Manni. »Was habe ich damit gemeint?«

»Utopie«, gibt er mir zur Antwort, während er die Gläser füllt. »Na, rappelt‘s im Karton? Oder muss ick dir noch mehr uff die Sprünge helfen? Kost ‘n Zehner extra.«

Ich hätte vorgeschlagen, uns vorzustellen, wie die Welt in hundert Jahren aussehen soll, erklärt er. Ohne Nord-Süd-Gefälle, keinen Ost-West-Konflikt mehr, Solarzellen und mit Wasserstoff betriebene Autos, die wegen des giftigen Reifenabriebs keine Räder mehr haben, sondern schweben.

»Gleichberechtigung, Menschenrechte, Frieden, Wohlstand – die janze Palette. Und für jedes Thema soll deiner Meinung nach eine internationale Kommission eingerichtet werden, die rückwärts denkt, von der Zukunft zurück in die Gegenwart. Um den richtigen Weg zu finden.« 

Ich bin baff. Das soll ich gesagt haben? Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern. Aber ab jetzt werde ich immer daran denken.

»Das kann die Welt retten!«, rufe ich durch die offene Tür dem nächtlichen Berlin zu.

»Lass es«, sagt mein Kumpel. »Das gibt ’n Shitstorm, den kannste dir nicht vorstellen!«

»Wieso? Ist es nicht besser, in die Zukunft schauen, als nur daran zu denken, dass es sie vielleicht bald nicht mehr gibt?«

»Stößchen«, sagt Manni und verteilt den Schnaps.

* * *