Porträt des Friedenspreisträgers Serhij Zhadan

Road-Movies aus dem Donbass

27. Juni 2022
von Börsenblatt

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht in diesem Jahr an den ukrainischen Lyriker, Romanautor und Übersetzer Serhij Zhadan. Vieles, was heute in seinem Heimatland geschieht, hat Zhadan in seinem Werk visionär vorweggenommen. Von Helmut Böttiger.

Serhij Zhadan (Mitte) bei einer Lesung aus seinem Roman "Mesopotamien" in der Frankfurter Nikolaikirche (2015), begleitet von Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe (links). 

"U kraina" bedeutet wörtlich übersetzt an der Grenze, am Rand. Für Serhij Zhadan bezieht sich das programmatisch auch auf den Bereich der Ästhetik: Ist der Rand nicht der angestammte Platz der Literatur? Steht Literatur nicht per definitionem immer am Rand? Ist ihre Sprache nicht gerade dadurch bestimmt, dass sie von der allgemein als selbstverständlich empfundenen Norm abweicht?

Serhij Zhadan stammt aus dem Donbass, der östlichsten Region des Landes, die in der allgemeinen Wahrnehmung lange weit hinter der Hauptstadt Kiew und den immer noch ein bisschen vom alten Habsburg geprägten westukrainischen Landstrichen zu liegen schien. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 schien das ein großes Thema der Selbstverständigung zu sein: welche Rolle würde die zu fast hundert Prozent russischsprachige Ostukraine im neuen, selbstständigen Staat spielen? Serhij Zhadan gab einige unmissverständliche Antworten. Seine ersten veröffentlichten Texte durchsetzen die Hinterlassenschaften des sowjetischen Imperiums mit den neuen Phänomenen des Konsums, der Wildheit und der Dynamik. Er nimmt die russisch-sowjetischen Prägungen ins Visier, um sie dann, vorzugsweise mit polyrhythmischen Jazz-Soli, in eine globale Cross-Culture-Improvisation zu überführen. Die äußere Form des Road-Movies scheint sich für ihn dabei ganz konsequent anzubieten.

Die äußere Form des Road-Movies scheint sich für ihn dabei ganz konsequent anzubieten.

Helmut Böttiger

In seinem ersten Roman "Depeche Mode" (im Original 2004 erschienen) lässt er drei Studenten durch das Chaos der frühen Neunziger Jahre treiben, und der Name der britischen Pop-Band "Depeche Mode" ist für sie wie ein Code dafür, wo sie hinwollen. Der Prosaband "Anarchy in the UKR" schließt direkt daran an: Der Titel überführt die "Anarchy in the UK" der britischen Punkband "Sex Pistols" direkt in die Ukraine. Zhadan spürt in diesem Buch unter anderem die Orte des von den Stalinisten zerschlagenen Anarchokommunismus im Donbass auf und entwirft gerade dadurch eine neue Zukunft.

Schon zu Zeiten seines Studiums in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine und im aktuellen Krieg in ihrer symbolischen und militärischen Bedeutung eminent wichtig, begann Zhadan, sich auch als Organisator von Kulturfestivals zu betätigen und als Lyriker wie als Rocksongschreiber aufzutreten. Die Ska-Rockband, mit der seit 2007 auf der Bühne steht, nannte sich zunächst "Hunde im Kosmos", mittlerweile heißt sie "Zhadan und die Hunde" und ist in der gesamten Ukraine Kult. Wer Zhadan einmal auf einer seiner Lesungen erlebt hat, bei denen er das Mikrofon wie eine Rockgitarre handhabt und in rhythmischen Kaskaden seine Zeilen intoniert, weiß, dass hier an einer ganz eigenen, osteuropäischen Verbindung von Lyrik und Rockperformance gearbeitet wird.

Serhij Zhadan, Sohn eines Lastwagenfahrers und mit der russischen Sprache sozialisiert, entdeckte früh die ihm eigentlich nicht geläufige ukrainische Sprache als Gegengift gegen die Sowjetherrschaft und deren in Oligarchennetzen und Korruption weiterwuchernden Formen. Es gab bald etliche Künstler, die sich ausdrücklich als politische Ukrainer begriffen, aber bei ihrer russischen Sprache blieben. Zhadan hat das radikalisiert, indem er dezidiert auf Ukrainisch zu schreiben begann. In seinem Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" explodiert diese Sprache. Zhadan nimmt eine spezifische Atmosphäre auf und verstärkt sie noch: "Seine Glatze hatte einen zarten Rosateint, und mit Brille glich er einem irren Chemiker, der gerade ein alternatives, umweltfreundliches Kokain erfunden und bereits erfolgreich an sich selbst ausprobiert hat. Er lief im orangefarbenen Overall und in Militärstiefeln herum, hatte überhaupt viel Military-Klamotten aus dem Secondhandladen und besaß sogar ausländische Armeesocken: Auf dem rechten stand ein 'R', auf dem linken ein 'L', damit man sie nicht verwechselte. Seine Handgelenke waren mit Tüchern und blutigen Binden umwickelt, Gesicht und Hände waren ständig voller Kratzer oder Schnittwunden. Er sah aus wie einer, der Pizza direkt aus dem Karton mampft." 

Serhij Zhadan entdeckte früh die ihm eigentlich nicht geläufige ukrainische Sprache als Gegengift gegen die Sowjetherrschaft und deren in Oligarchennetzen und Korruption weiterwuchernden Formen.

Helmut Böttiger

Wenn man das Zentralgebiet der Ukraine, das Land der Kosaken durchquert und in die postsowjetischen Industriezonen des äußersten Ostens gelangt, wirkt eine ganz andere, eine rauhere, kältere und härtere Form von Phantastik als in den Habsburg-Adaptionen des Westens. Zhadan hat eine äußerst konkrete Sprache dafür entwickelt. Sie ist ironisch, sarkastisch, doppelbödig, und sie wendet sich vor allem auch gegen die pathetische Tradition der Nationaldichtung, gegen das "Heilige". Das ist in der Geschichte der ukrainischen Sprache nichts weniger als eine Revolution.

Durch den russischen Einmarsch in der Krim 2014 und die Besetzung von Teilen des Donbass wurde die Frage nach der ukrainischen Identität plötzlich ganz real. Zhadan reiste mit seiner Band sofort von Charkiw in den Donbass und gab dort Konzerte. Sein großer Roman "Internat" (im Original 2017 erschienen) ist eine unmittelbare Reaktion auf die neue Situation. Er erzählt von den militärischen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine, in den annektierten Gebieten um Donezk und Luhansk, deren Frontverläufe sich auf unübersichtliche Weise verändern. Der Protagonist Pascha, Mitte Dreißig, interessiert sich eher nicht für Politik und versucht, die Ereignisse am besten gar nicht wahrzunehmen. Im Fernseher in seinem Eisenbahnerhäuschen sind aber immer öfter Panzer zu sehen, und als ihm sein Vater befiehlt, seinen dreizehnjährigen Neffen aus dem Internat abzuholen, beginnt eine Zhadan-typische Odyssee.

Erst im leeren Bus registriert Pascha allmählich, dass die Lage ziemlich bedrohlich ist, es gibt Straßensperren und Soldaten mit Maschinengewehren. Die Stadt, in die er unterwegs ist, hat keinen Namen, und die Besatzer werden, in einem fatalistischen Schicksalston, einfach nur "die Neuen" genannt. Pascha gerät immer wieder zwischen die Kampflinien, er sieht ausgemergelte Landschaften, schlägt sich auf aufgeborstenen Straßen durch, schließt sich vagabundierenden Gruppen an und trifft auf versprengte Truppenteile, bis er mit seinem Neffen tatsächlich wieder zuhause eintrifft. Die Sprache entwickelt im Laufe des Romans ein widerständiges Potenzial, und Pascha erlangt inmitten der allgemeinen Verrohung und Verwüstung eine bizarr-surreale Wahrnehmungsfähigkeit. In "Internat" hat Serhij Zhadan, zu einer Zeit, als die Krise im Donbass noch ein lokal begrenzter Konflikt zu sein schien, die Zustände nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine bereits heraufbeschworen und vorweggenommen. Ein visionärer, immer wieder unruhig hochflackernder Roman, der das Bewusstsein seines Helden auf filmische Weise vor Augen führt und hellwach ist. Er handelt von einer Gegenwart, die keineswegs fern und die Gegenwart Europas ist.   

Der Verfasser dieses Porträts, Helmut Böttiger, lebt als freier Autor und Kritiker in Berlin. Der promovierte Germanist hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und kuratierte mehrere Literatur-Ausstellungen. 1996 erhielt er den Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik, 2012 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Er lehrte als Gastprofessor für Literaturkritik an der Georg-August-Universität Göttingen und gehört verschiedenen Jurys für literarische Auszeichnungen an.