INTERVIEW DER WOCHE: Digitale Literaturtage in Koblenz

„99 Euro für 14 Lesungen - das ist ein Superangebot!“

12. März 2021
von Sabine Cronau

Ein Literaturfestival mitten in der Pandemie? GanzOhr in Koblenz macht’s vor: Mit einem Digitalprogramm in Theaterregie, vom 14. bis zum 28. März. Ein Interview mit Intendant Markus Dietze und Robert Duchstein von der Buchhandlung Reuffel - über die Tücken des Streamings und die Kraft der Kooperation. 

Ein wackliger Stream am Küchentisch mag zwar ganz charmant sein, aber eine professionell inszenierte Bühnenlesung ist etwas ganz anderes – und vor allem: auch etwas wert.

Robert Duchstein, Geschäftsführer der Buchhandlung Reuffel in Koblenz

Die Koblenzer Literaturtage GanzOhr finden in diesem Jahr als ein reines Digitalprogramm statt. Haben Sie darüber nachgedacht, das Festival auf den Herbst zu verschieben oder pandemiebedingt ganz ausfallen lassen?
Robert Duchstein: Im Frühjahr 2020 mussten wir die Literaturtage mittendrin abbrechen, weil sich die Pandemie-Welle gerade aufbaute. So vieles ist in der Corona-Krise verschoben oder abgesagt worden – deshalb bin ich sehr froh, dass die Stadt Koblenz in diesem Jahr an den Literaturtagen festhält. Lesungen eignen sich sehr gut für virtuelle Formate, wir wollten das unbedingt machen! Bis zuletzt haben wir auch über hybride Veranstaltungen mit Live-Publikum vor Ort nachgedacht, aber irgendwann muss man sich festlegen. Die aktuelle Lage gibt uns recht: Wir könnten ab Sonntag sicher keine Lesung mit Zuschauer*innen anbieten. Von daher war unsere Entscheidung für ein reines Digitalprogramm richtig.

Sie, Herr Duchstein, sind künstlerischer Leiter der Literaturtage. Veranstalter des Festivals ist seit diesem Jahr das Theater der Stadt, das die Koblenzer Touristik-GmbH als öffentlichen Partner abgelöst hat. Würde es diese Zusammenarbeit ohne Corona gegeben?
Markus Dietze: Wir sind mit dem Reuffel-Team seit langem eng verbunden. Zum einen, weil unser Ensemble seit jeher viele Lesungen mitgestaltet, zum anderen weil wir den besten Veranstaltungsraum für Literatur haben. Autor*innen lesen gern in einem schönen, normalerweise vollbesetzten Theatersaal aus dem 18. Jahrhundert. Von daher ist unsere Partnerschaft unabhängig von der Pandemie entstanden. Aber es gibt in der Tat einen Aspekt, der mit Corona zu tun hat: In den vergangenen Monaten hat unser Theater sehr viel Erfahrung mit Streaming gesammelt, die wir jetzt für GanzOhr nutzen können. Als erstes Theater jenseits der ganz großen Player haben wir schon im April 2020 ein eigenes On-Demand-Video-Portal eingerichtet.

Warum?
Markus Dietze: Weil wir keine Lust mehr hatten, unsere Inhalte kostenlos auf den Seiten irgendwelcher US-Konzerne unters Volk zu bringen. Wir streamen unsere Opernabende, Konzerte, Theaterstücke jetzt selbst und bekommen dadurch eine ganz andere Reichweite als bei reinen Präsenzaufführungen. Die Literaturtage haben für uns einen besonderen Charme: Wenn wir als eher regionales Theater "Don Giovanni" inszenieren, dann mag das Opernliebhaber in den Metropolen vielleicht nur bedingt interessieren – aber wenn Wladimir Kaminer bei uns liest, dann gibt es eine riesige, bundesweite Fangemeinde. Das ist toll!

"Wir hatten keine Lust mehr, unsere Inhalte kostenlos auf den Seiten irgendwelcher US-Konzerne unters Volk zu bringen. Wir streamen unsere Opernabende, Konzerte, Theaterstücke schon seit April 2020 selbst."

Markus Dietze, Intendant am Theater Koblenz

Sind Buchhandlungen und Theater generell gute Partner?
Markus Dietze: Unbedingt. GanzOhr ist ein öffentlich-rechtliches Kulturprojekt, das bisher von der Koblenz-Touristik GmbH veranstaltet wurde. Aber das Team dort betreibt ein ganz anderes Geschäft, nämlich den Tourismus. Deshalb hat sich die Stadt nach einer neuen Lösung umgeschaut. Und dass ein Theater bei der Organisation von Veranstaltungen, bei Technik, Ticketverkauf und Inszenierung Expertise mitbringt, liegt auf der Hand. Alles, was bislang über Bande lief, können wir nun ohne organisatorische Umwege angehen. Das ist in der Pandemie besonders wichtig, weil sie uns permanent zum Umplanen zwingt.

Robert Duchstein: Literatur gehört einfach auf die Bühne. Lesungen ermöglichen einen unmittelbaren Zugang zum Autor, zum Werk. Und in Koblenz unterstützt uns das ganze Theater-Ensemble dabei, Bücher in Szene zu setzen, von der Opernsängerin bis zum Musiker. Wie eng Bühne und Buch verbunden sind, zeigt sich aber auch an Künstler*innen, die in beiden Welten zuhause sind – wie Schauspieler Christian Berkel, der bei GanzOhr aus seinem neuen Buch "Ada" liest.

Einen Tisch, ein Mikro und ein paar Stühle aufzustellen – das ist etwas ganz anderes als für Kamera, Sound, Licht, Maske und Schnitt zu sorgen.

Robert Duchstein, Buchhandlung Reuffel

Auch die Zielgruppen dürften sich überschneiden…
Robert Duchstein: Ja, aber genau darin liegt eine gemeinsame Aufgabe. Wie bleiben wir für ein jüngeres Publikum attraktiv? Dafür muss man neue Formate ausprobieren, ohne Klamauk und "Eventisierung". Technik, Performance, Bühnenbild: Es geht darum, alles zu nutzen, was Theater gut kann. Die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer beispielsweise wird in Koblenz ihr aktuelles Buch "Dave" vorstellen. Sie interagiert auf der Bühne mit einem Bot, den sie selbst kreiert hat. Vorproduzierte Videos fließen in die Performance ein. Eine coole Idee, die zu einem digitalen Festival passt und auch junge Leute anspricht. Als Buchhandlung könnten wir das nicht stemmen, mit Unterstützung des Theaterteams schon.

Wie groß ist der Mehraufwand, die Live-Veranstaltung vor Ort (ohne Publikum) zu organisieren – und parallel das Streaming und die Übertragung?
Markus Dietze: Der zusätzliche Einsatz an Technik und Personal ist schon erheblich. Dieser Aufwand bleibt, auch wenn die einzelnen Schritte fürs Streaming für uns inzwischen Routine sind. Normalerweise findet GanzOhr an zehn verschiedenen Spielstätten statt, vom alten Kinosaal bis zum Weinkeller. Diesmal konzentrieren wir uns weitgehend auf das Theater, denn ohne gutes Internet kann man nicht streamen.

Robert Duchstein: Einige Lesungen finden bei uns in der Buchhandlung statt. Wir können das stemmen, weil wir für unser eigenes Reuffel-Programm in entsprechende Technik investiert haben. Aber ganz klar: Einen Tisch, ein Mikro und ein paar Stühle aufzustellen – das ist etwas ganz anderes als für Kamera, Sound, Licht, Maske und Schnitt zu sorgen. 14 Veranstaltungen an 15 Tagen zu organisieren, würde eine einzelne Buchhandlung aber auch schon ohne Streaming überfordern. Deshalb sind wir sehr froh darüber, dass GanzOhr ein städtisches Festival ist, bei dem Reuffel und die Buchhandlung Heimes als Kooperationspartner mit im Boot sitzen.

Warum holen Sie die Autor*innen nach Koblenz – statt sie in diesem Jahr einfach zuzuschalten?
Robert Duchstein: Weil wir das Gefühl eines "richtigen" Auftritts an regionalen Schauplätzen vermitteln wollen. Außerdem geht es um Qualität: Ein wackliger Stream am Küchentisch mag zwar ganz charmant sein, aber eine professionell inszenierte Bühnenlesung ist etwas ganz anderes – und vor allem: auch etwas wert.

Die Menschen sehnen sich nach Live-Events. Als wir das Theater im Sommer 2020 für zwei, drei Monate wieder öffnen konnten, war das Interesse am Streaming plötzlich sehr überschaubar.

Markus Dietze, Theater Koblenz

Die Tickets kosten 9 Euro pro Veranstaltung. Außerdem bieten Sie eine Art Abo-Modell an, wie im Theater: Wer alle 14 Veranstaltungen streamt, zahlt 99 Euro. Wird das genutzt?
Markus Dietze: Wenn man den Sparsamkeitsrechner anwirft, ist das ein Superangebot. Leider machen das nicht alle. Aber wir sind mit dem Vorverkauf sehr zufrieden. Viele werden sich wohl noch auf den letzten Drücker oder erst im Nachhinein für ein Ticket entscheiden. Anders als im Theater ist die Anzahl der Plätze ja nicht begrenzt – und die Streams stehen 14 Tage lang zur Verfügung. Ein Abo-Modell hätten wir auch unter normalen Umständen aufgelegt: Es gibt Fans, die zu jeder einzelnen GanzOhr-Lesung kommen. Und die sollte man auch belohnen.

Wird das Streaming ein fester Bestandteil des Festivals?
Markus Dietze: Das Digitale wird uns wohl nie mehr ganz verlassen, aber als wir das Theater im Sommer 2020 für zwei, drei Monate wieder öffnen konnten, war das Interesse am Streaming plötzlich sehr überschaubar. Bei Kunst und Kultur sehnen sich die Leute einfach nach Live-Events. Von daher: Warten wir erst einmal ab, wie sich die Dinge entwickeln.

Ich freue mich besonders auf das Live-Hörspiel "Dave" von Raphaela Edelbauer. Das wird richtig avantgardistisch!

Robert Duchstein, Buchhandlung Reuffel

Nicht nur das Theater-Ensemble, auch die Autor*innen konnten monatelang nicht auftreten. Fällt die Entscheidung da besonders schwer, wer kommen darf?
Robert Duchstein: Ja, die Auswahl war diesmal wirklich besonders schwer, denn den Autorinnen und Autoren fehlt nun schon in der dritten Novitäten-Saison das Rampenlicht. Klar ist aber auch: Für einen digitalen Auftritt ohne Publikum mal eben so nach Koblenz zu reisen – das macht nicht jeder. Dass trotzdem so viele kommen, ist ein Beleg dafür, dass wir das Festival auf der literarischen Veranstaltungskarte in Deutschland fest verankert haben.

Worauf freuen Sie sich besonders?
Markus Dietze: Auf "Neue Texte in 3D" – ein festes Format, bei dem Dramaturg John von Düffel und ich Texte ganz junger Autor*innen vorstellen, die den Studiengang „Szenisches Schreiben“ an der Berliner Universität der Künste absolvieren. Das Theater-Ensemble erweckt dabei Literatur zum Leben, die noch gar nicht gedruckt ist. Robert Duchstein sagt immer, dass dieser Abend die Hipster-Dichte in Koblenz schlagartig um 100 Prozent erhöht. Außerdem freue ich mich auf Sharon Dodua Otoo, eine großartige Autorin mit beeindruckender Organisationsstärke. Innerhalb von 24 Stunden hat sie für die Schauspielerinnen einen perfekten Plan mit Textstellen aus ihrem Buch "Adas Raum", genauem Ablauf und Excel-Tabelle entwickelt. Das ist normalerweise unser Job.

Robert Duchstein: Ich freue mich besonders auf das schon erwähnte Live-Hörspiel "Dave" von Raphaela Edelbauer. Das wird richtig avantgardistisch! Und auf Florian Werner und sein Buch "Die Raststätte – eine Liebeserklärung". Der Autorentalk mit ihm wird sicher ein großes Vergnügen, inklusive kulinarischer Grenzerfahrungen und einer Philosophie der Sanifair-Toilette.

Mehr zum GanzOhr-Programm finden Sie hier: https://koblenzer-literaturtage.de/