IHK-Interview zum "Brandbrief Ausbildung"

"Den besonderen Schutz der Azubis kann man gar nicht oft genug betonen"

6. April 2021
von Sabine Cronau

Der Brandbrief von 60 angehenden Buchhändler*innen (mehr dazu hier) hat gezeigt: In der Pandemie kann die Ausbildung unter die Räder kommen. Erste Anlaufstelle bei Problemen ist die örtliche Industrie- und Handelskammer. Wie können die Ausbildungsberater helfen? Und häufen sich die Anfragen in der Corona-Krise? Zwei Expert*innen der IHK Frankfurt am Main über Konfliktpotenzial und Eskalationstufen.

Im Hotel- und Gastronomiegewerbe haben Auszubildende durch den Lockdown große Sorge, dass ihnen Berufspraxis fehlt – also fast das gegenteilige Problem zum Buchhandel.

Brigitte Scheuerle, bei der IHK Frankfurt am Main Geschäftsführerin Aus- und Fortbildung

Wer in der Ausbildung Probleme bekommt, kann sich an die Ausbildungsberater der örtlichen IHK wenden. Gehen in der Pandemie bei Ihnen mehr Beschwerden ein als sonst?

Brigitte Scheuerle, Geschäftsführerin Aus- und Weiterbildung: Wir können natürlich nur für die IHK Frankfurt sprechen, die eine überschaubare Zahl an Ausbildungsverhältnissen im Buchhandel betreut. Aber bei uns ist die Zahl der Beratungs- und Konfliktgespräche während der Pandemie nicht gestiegen - weder für den Buchhandel noch für den gesamten Einzelhandel. Anders sieht es dagegen im Hotel- und Gastronomiegewerbe aus, wo wir deutlich mehr Anfragen verzeichnen. Hier haben Auszubildende durch den Lockdown große Sorge, dass ihnen Berufspraxis fehlt – also fast das gegenteilige Problem zum Buchhandel.

Warum dürfen Auszubildende eigentlich nicht in Kurzarbeit geschickt werden?

Florian Richterich, Leiter Ausbildungsberatung: Ausbildungsverhältnisse sind durch das Berufsbildungsgesetz besonders geschützt. Nur wenn der Betrieb vollständig zum Erliegen kommt und es keinerlei Möglichkeit gibt, den Auszubildenden berufliche Handlungsfähigkeit zu vermitteln, kann auch für sie Kurzarbeit beantragt werden. Um ein Beispiel zu nennen: Selbst in der Tourismusbranche, die ja durch Corona sehr gebeutelt ist, geht das nicht so ohne weiteres, denn hier fallen jetzt Stornierungen oder Umbuchungen an, die zur Ausbildung dazu gehören. In der Gastronomie dagegen, wo Unternehmen zum Teil seit einem Jahr geschlossen sind, ist Kurzarbeit durchaus auch für Azubis möglich. Die Ausbildungsvergütung muss dann trotz Kurzarbeit sechs Wochen lang in voller Höhe bezahlt werden.

Ausbilderinnen und Ausbilder haben die Pflicht, Inhalte zu vermitteln und in der Regel vor Ort zu sein. Sie sollten deshalb nach Möglichkeit nicht in Kurzarbeit gehen.

Florian Richterich, bei der IHK Frankfurt am Main Leiter Ausbildungsberatung

Ist ihre Ausnahmestellung für Auszubildende immer nachzuvollziehen?

Richterich: Bei uns gehen durchaus vereinzelt Anfragen von Auszubildenden ein, die nicht so recht verstehen, warum sie nicht in Kurzarbeit gehen „dürfen“. Grundsätzlich betrachtet ist Kurzarbeit in der Ausbildung fatal. Wer weniger arbeitet, bekommt nicht alle Inhalte vermittelt. Zu solchen Erwägungen kommt noch ein praktisches Problem hinzu: Für die Berufsschule, die ja verpflichtend und Teil der Arbeitszeit ist, müsste man die Auszubildenden jedes Mal neu aus der Kurzarbeit herausnehmen. Das wäre ein sehr hoher bürokratischer Aufwand.

Scheuerle: Den besonderen Schutz, den Azubis in der Krise genießen, kann man aus meiner Sicht übrigens gar nicht oft genug betonen. So etwas gibt es in keinem anderen Arbeitsverhältnis.

Die angehenden Buchhändler*innen beklagen in ihrem Brandbrief, sie seien billige Arbeitskräfte – und fühlen sich allein gelassen. Wo bleibt da der Schutz?

Richterich: Wenn Auszubildende sich selbst überlassen werden und die ganze Verantwortung allein schultern müssen, ist das natürlich nicht haltbar. Gerade aus Betrieben mit vielen Filialen rufen uns immer mal wieder Auszubildende an und sagen: Entschuldigung, ich stehe hier allein im Laden. Ist das so richtig? Die Antwort: Nein, das ist natürlich nicht richtig. Ausbilderinnen und Ausbilder haben die Pflicht, Inhalte zu vermitteln und in der Regel vor Ort zu sein. Sie sollten deshalb nach Möglichkeit nicht in Kurzarbeit gehen, sondern als Ansprechpartner zur Verfügung stehen – auch wenn das im Moment oft notgedrungen auf Telefonate und Videokonferenzen beschränkt ist.

Es gibt jede Menge Eskalationsstufen - doch die meisten Konflikte lassen sich im persönlichen Gespräch klären.

Brigitte Scheuerle

Werden Sie aktiv, wenn sich Auszubildende allein gelassen fühlen?

Richterich: Ja, wenn wir in Kenntnis gesetzt werden, schauen wir uns die Situation vor Ort an, lassen uns die Personaleinsatzplanung geben – und prüfen, ob der Azubi vom Personalschlüssel her fachgerecht betreut werden kann. Ist das nicht der Fall, können weitere Maßnahmen ergriffen werden. In letzter Konsequenz könnte sogar die Ausbildungsberechtigung entzogen werden. Das ist schon vorgekommen, aber ein absoluter Ausnahmefall.

Wären Sie in der Krise etwas nachsichtiger mit den Betrieben?

Scheuerle: Wir sind für beide Seiten da – für die Betriebe und die Auszubildenden. Bei unseren Entscheidungen orientieren wir uns an klaren Empfehlungen zum Fachkräfteverhältnis im Betrieb. Solche Zahlen sind nicht verhandelbar. Zum Glück gibt es jede Menge Eskalationsstufen. Das meiste lässt sich im persönlichen Gespräch klären.

Was raten Sie den 60 Azubis, die den Brandbrief unterschrieben haben? Könnten Sie mal einen Fall durchspielen?

Scheuerle: Grundsätzlich sollten sich alle Auszubildenden, die in ihren Unternehmen vor scheinbar unlösbaren Problemen stehen, an die Ausbildungsberater*innen der jeweiligen IHK wenden. Wir unterliegen der Schweigepflicht und sprechen erst einmal unter vier Augen über den Fall. Wir überlegen dann gemeinsam mit dem Auszubildenden, wie sich der Konflikt, der oft mit Emotionen verbunden ist, versachlichen lässt.

Richterich: Manchmal gibt es ja Vertrauenspersonen oder Betriebsräte im Unternehmen, die vermitteln können. Ist das Problem absolut nicht zu beheben und befreien uns die Auszubildenden von der Schweigepflicht, dann gehen wir direkt auf das Unternehmen zu. In 99,9 Prozent der Fälle lässt sich der Konflikt dann im direkten Gespräch mit Azubi, Ausbilder und ausbildendem Unternehmen lösen.

Was uns bei den Beratungen übrigens häufig auffällt: Viele Auszubildende wissen oft gar nicht so genau, welche Tätigkeiten laut Ausbildungsordnung zu ihrem Aufgabenfeld gehören. Wenn angehende Buchhändler*innen zum Beispiel kritisieren, dass sie im Moment vor allem Telefonisten, Auslieferer und Kassenkräfte sind, muss man sagen, das alles gehört vollumfänglich zum buchhändlerischen Beruf dazu. Auch wenn es vielleicht nicht der schönste Teil ist.

Viele Auszubildende wissen oft gar nicht so genau, welche Tätigkeiten laut Ausbildungsordnung zu ihrem Aufgabenfeld gehören.

Florian Richterich

Also würden Sie gar keinen Handlungsbedarf sehen?

Richterich: Das lässt sich im Detail nur im persönlichen Gespräch und von Fall zu Fall klären. Ich gebe aber zu bedenken, dass wir hier von Buchhandlungen sprechen, die ihre Auszubildenden nicht in die örtliche Berufsschule, sondern zum Mediacampus Frankfurt schicken. Sie investieren damit deutlich mehr als andere Unternehmen in die Ausbildung des Branchennachwuchses. Ich kann mir deshalb schwer vorstellen, dass sie vor allem billige Arbeitskräfte suchen.

Scheuerle: Was ich zwischen den Zeilen aus dem Brandbrief herauslese - das ist eine existentielle Angst, die im Moment viele Auszubildende umtreibt. Die jungen Leute wünschen sich verständlicherweise eine Perspektive, gerade wenn ihre Branche unter Druck steht. Zum Glück kann man mit einem kaufmännischen Beruf und buchhändlerischem Herzblut in vielen Branchen arbeiten. Die Zeit ist also sicher nicht verloren. Die letzten drei Prüfungsphasen zeigen zudem, dass sich Corona zumindest nicht in den Abschlussnoten niederschlägt. 99 Prozent aller angehenden Buchhändler*innen bestehen die Prüfung, die durchschnittliche Note schwankt seit einigen Jahren zwischen 78 und 82 Punkten. Auch in der Pandemie starten also gut ausgebildete Nachwuchskräfte ins Berufsleben, denen wir viel Erfolg wünschen.

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