Hauke Hückstädt über Boykotte und Brücken im Ukraine-Krieg

Krieg und Frieden boykottieren

11. März 2022
von Hauke Huckstädt

Wie reagieren die Literaturhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf den Boykottaufruf für russische Autoren, Bücher, Verlage? Mit Vielstimmigkeit – sagt Hauke Hückstädt.

Wird eine Epoche beerdigt / Tönt kein Psalm übers Grab. / Brennesseln, Disteln / Werden den Hügel verzieren.

Das schrieb die russische, in Odessa geborene Dichterin Anna Achmatowa. Sie schreibt das 1940, angesichts des Einmarschs der Deutschen in Paris, hier in der Übertragung von Sarah Kirsch. Auch Europa schaut jetzt auf gespenstische Stille, schaut auf Distelwerk, erblickt das Ende einer Epoche, die womöglich nur eine Periode war, in der wir auf Verständigung, Nähe und Diplomatie vertrauten und das oft mit Hoffnung verbanden. Putins Apparat eröffnet den Krieg gegen die Ukraine.

Wir brauchen jetzt Brücken zueinander, keine Gräben. Deshalb auch werden die belarussischen Autoren Sasha Filipenko und Viktor Martinowitsch gemeinsam mit der Kiewer Autorin und Verlegerin Kateryna Mishchenko und der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk sowie dem Historiker Karl Schlögel an einem langen Abend im Literaturhaus Stuttgart zusammenkommen: »Ukraine im Krieg«. Der Livestream am 14. März beginnt um 19 Uhr, ist kostenfrei und das gesamte Netzwerk stellt sich dahinter (www.bpb.de/ukraine-im-krieg und https://vimeo.com/683720956). 
 

Arenen für Austausch

Unsere 14 Häuser stehen in regem Austausch miteinander und auch mit den Autoren. In diesen Tagen besonders. Wladimir Sorokin liest in Salzburg. Oksana Sabuschko in München. Im Kölner Literaturhaus haben kürzlich fünfzehn Autoren, darunter PeterLicht und Melanie Raabe ukrainische Literatur gelesen und Spenden gesammelt. In Frankfurt ordnete Nino Haratischwili die russische Aggression vor dem Hintergrund georgischer Kollektiverfahrungen ein. 

Mit dem Gewehrlauf an der Stirn gibt es keine unangemessenen Forderungen.

Hauke Hückstädt

Literaturhäuser sind Arenen für Austausch, keine Regale. Tolstoi, Puschkin, Pasternak und Dostojewski, Mandelstam und Zwetajewa lassen sich nicht räumen. Ebenso wenig die aktuelle Trägerin des Preises der Literaturhäuser, die deutsche, in Wolgograd geborene Autorin Sasha Marianna Salzmann. Katerina 
Poladjan ist mit ihrem Roman »Zukunftsmusik«, in dem sie die russischen Verhältnisse Mitte der 80er Jahre in Sibirien beschreibt, für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert; sie liest in wenigen Tagen in Leipzig. Und der Leonce-und-Lena-Preisträger des vorpandemischen Jahres 2019 heißt Yevgeniy Breyger, ein im ukrainischen Charkiw geborener deutscher Dichter und Wahlfrankfurter. Es war der Exilrusse Joseph Brodsky, der in seiner Nobelpreisrede sagte, wir wären besser beraten, wenn wir die künftigen Lenker unserer Geschicke befragten nach ihrem Verhältnis zu unseren Dichtern, anstatt uns auf den Kurs ihrer Außenpolitik zu verlassen.

Das Netzwerk der Literaturhäuser in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz kann dem von ukrainischen Kolleginnen und Institutionen geforderten Boykott russischer Bücher, Verlage und Autoren nur schwer nachkommen und gleichzeitig nicht widersprechen. Gefragt nach einer Reaktion eben darauf, lässt sich nur sagen: Mit dem Gewehrlauf an der Stirn gibt es keine unangemessenen Forderungen. Doch ein Totalboykott würde alles treffen, auch die, die jetzt dringend gebraucht werden: die russische, die lesende, die schreibende Gemeinschaft, die Intellektuellen, die reflektierende Welt und alle, die noch etwas wollen, die jung sind und stark und die frei sein möchten. Sie sind es, die es zu stärken gilt. Denn auch sie müssen es sein, die sich gegen Krieg und Verderben zu Wort melden. Allerdings lässt sich Widerstand nicht einfordern, wenn denjenigen, die ihn leisten sollen, Gewalt, Strafe und Haft drohen.