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Die Angst vorm leeren Blatt

9. Juni 2022
von Veronika Weiss

Die ersten Sätze fallen manchmal schwer. Statt ewig über den Anfang zu grübeln, sollte man einfach loslegen, ohne zu hohe Erwartungen an sich selbst. Ist ja nichts in Stein gemeißelt.  

Was schreibe ich bloß?

Wenn von der sprichwörtlichen »Angst vorm leeren Blatt« die Rede ist, stellt man sich ein bestimmtes ­Szenario vor: Eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller sitzt in einer Schreibstube am Sekretär, auf dem ein weißes Blatt liegt. Eine Schreibfeder gibt es auch, aber daran kaut dieser ­Jemand herum und schaut in die Luft, die Stirn vor Sorge ­gerunzelt, stundenlang nicht weiter wissend.

Eingebettet ist diese Szene natürlich in eine Welt, in der mit der Hand geschrieben wird, mal die Tinte alle ist, dann wieder das handgeschöpfte Papier ausgeht und wochenlang gewartet werden muss. Heute muss es nicht mehr lange dauern, bis die eigene Schrift auf Publikum trifft. Die Ressourcen sind gut ­verfügbar, und durch digitale Schreibprozesse kann flott ­umformuliert, lektoriert und korrigiert werden. Der Weg zum Buch ist deutlich kürzer geworden.

Einfach mal ein paar Worte online stellen

»Publizieren« im Allgemeinen ist einfacher geworden: Innerhalb weniger Sekunden kann jeder Mensch mit entsprechendem Profil Text in den sozialen Medien veröffentlichen oder einen Kommentar schreiben, einen Leserbrief einsenden oder eine Nachricht verschicken. Wenn es nur um ein paar harmlose Zeilen geht, gibt es auch keinen Grund zur Aufregung. Oft kommen unsere schriftlichen Äußerungen gar nicht aus dem furcht­erregenden Nichts, sondern haben einen konkreten Anknüpfungspunkt: Online wird viel diskutiert und debattiert. Die Themen, die uns begleiten, folgen einem kaum versiegenden Strom der Kommunikation auf verschiedensten Kanälen. 

Wo also kein weißes Blatt, da auch keine Angst davor? Und woher kann eine solche Angst überhaupt kommen? Die Gründe sind unterschiedlich: Beklemmung, weil man im Begriff ist, sein Innerstes darzulegen, die Befürchtung, nicht genug ­recherchiert zu haben, Zweifel, ob die eigene Idee packend genug ist. Gemeinsam haben alle den selbst erzeugten Druck. Aber warum? Heute wird so divers veröffentlicht wie nie, und es hat sich gezeigt, dass auch viele Texte abseits der althergebrachten Norm auf ihre Art eine Daseinsberechtigung haben.
 

Klein denken

Genau wie online kann es auch im Word-­Dokument funktionieren: Man tippt einfach los. Die eigenen Gedanken, eine Szene probeweise. Vielleicht sind diese Zeilen ein guter Anfang, vielleicht sind sie auch schlecht. Dann eben noch mal neu und anders. Hauptsache, die Panik vor dem ers­ten Schritt schwingt nicht mit. Ein Journalist hat mir mal den Tipp gegeben: Schreiben Sie los, schreiben Sie fertig – und löschen Sie dann den ersten Absatz, dann ist es gleich viel besser.

Sobald man sich an die Aufgabe gesetzt und losgelegt hat, kommt man voran, so viel ist sicher. Bewertet wird später. Denn ein paar Seiten Text geschafft zu haben, motiviert und setzt den Grundstein für alles, was danach kommt. Falls es also da draußen noch jemanden geben sollte, der oder die Angst vor der Leere, vor den ersten Worten hat: Denken Sie in diesem Moment bewusst klein. Fangen Sie einfach an, ohne zu hohe Erwartungen an sich selbst. Der Anfang wird sich schon finden, irgendwann.

UNSERE KOLUMNISTIN

Veronika Weiss (37) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung arbeitet sie in Hamburg als Lektorin in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) und nebenbei frei als Texterin. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.