Kolumne von Martina Bergmann

Keiner hört mehr richtig zu

3. Januar 2020
von Börsenblatt

Man müsse wohl seelisch ertragen, dass heute keiner mehr zuhört, und sich davon nicht kränken lassen, meint Martina Bergmann. Die Buchhändlerin aus Borgholzhausen wird ganz gut damit fertig - und wünscht allen Kolleginnen und Kollegen im neuen Jahr richtig nette Kunden.  

Das Arbeitsjahr begann mit der Bewerbung eines Anonymus. Wer auch immer er ist, ich kann ihm kein Schülerbetriebspraktikum anbieten. Er versäumte, sich mit Namen einzuführen. Anonymus lernt nach eigenen Angaben aus Werken, die er bei Amazon bezieht, und dass er dort nicht hospitieren kann, liegt an der räumlichen Entfernung. Bei mir liegt das an seinen Umgangsformen. Anonymus (geschätzt 15) konnte diese Information nicht verarbeiten. Er reagierte mit der Generalformel dieser Tage. Er sagte, das sei ungerecht. Ich entgegnete, er habe auch übrigens etwas in den Ohren. Er meinte, Stöpsel. Ich meine, Zeitgeist.

Der Zeitgeist materialisiert sich in einer Art Ohrenschmalz, die im Kopf dort sitzt, wo der akustische Zugang in eine Sachinformation verwandelt wird. Meinetwegen: "Ihre Bestellung können Sie übermorgen gegen elf Uhr abholen." Mögliche Antworten: "Ja, okay." Oder: "Nein, das dauert mir zu lange." Vielleicht noch: "Ich schicke meine Schwiegermutter." Realistische Antwort, bei sicher dreißig Prozent der Kunden: "Gut, ich komme morgen Nachmittag." Anderes Beispiel: "Wir würden gern eine Lesung bei Ihnen veranstalten." Ich sage: "Im Moment geht das nicht. Melden Sie sich gern zur Jahresmitte." Antwort: "Prima. Wir hatten an den zwanzigsten Februar gedacht."

Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, wie man dieses Phänomen wohl fachsprachlich abbildet. Irgendwo unterwegs habe ich etwas über Kommunikationsmodelle gelernt - in der Berufsschule zum Beispiel, und auch nochmal im Grundstudium Literaturwissenschaften. Ich habe überdies genügend Ausgaben von Friedemann Schulz von Thuns "Miteinander reden" verkauft, um mir einzubilden, der Inhalt habe auf mich abgefärbt. Da saß ich also an meinem Computer, verwandelte Laute von Kunden in Bestellungen bei Umbreit, dachte nebenbei über eigenartige Gespräche nach und merkte: Sinnlos. Zeitverschwendung. Es ist einfach so, dass die Menschen nicht mehr gut zuhören. Man muss sich darauf einstellen.

Als Anonymus seiner Wege gegangen war, durchmusterte ich im Geiste seine anderen. Die vielen, denen ich 2019 kein Praktikum, keinen Minijob und keine Möglichkeit zur Durchführung eines Lichtbildervortrags geben konnte oder wollte. All die, die Gedichte und Romane und Theaterstücke schreiben, derer sich niemand erbarmt. Freunde des Brauchtums und von atonaler Klangkunst. Es waren sehr viele, und eigentlich waren sie nett. Desorientiert, aber freundlich. Die paar ranzigen Ausnahmen lasse ich hier unbeachtet, weil es die immer gibt. Jedes Jahr im Einzelhandel stattet einen mit Begegnungen aus, auf die man gern verzichtet hätte. Aber das war vor zehn Jahren auch nicht anders als heute.

Heute muss man wohl seelisch ertragen, dass keiner zuhört, sich davon also nicht kränken lassen. Ich kann das unterschiedlich gut. Bedingende Faktoren: Zufriedenstellende Tageskasse und ausreichender Nachtschlaf. Außerdem: Wie soll man Programm machen für Kunden, die nur zappen? Reinschießen, rausflippern, einem Trend gefühlt drei Monate magnetisch folgen, um sich irgendwann objektiv grundlos, wahrscheinlich also des Mondes wegen, dem nächsten zuzuwenden? Beispiele aus dem vergangenen Jahr: Anfallsartige Aufräumsucht nach Marie Kondo, der eine ebenso starke Kleinkonjunktur von Anti-Plastik-Ware folgte.

Man könnte verdrüsslich werden. Aber warum? Ich habe so viele Fontanes verkauft, wie das kein Vertreter meiner kleinen Stadt jemals zugetraut hätte. Nicht nur Biografien, sondern auch "Effi Briest" und "Mathilde Möhring" und wie sie alle heißen. Ich habe Kunstbände ausgelegt und über den Kassentresen gehen sehen, Werkausgaben: Irmgard Keun und Erich Kästner und Johann Peter Hebel. Kleist auch dann und wann, dazu unverwüstlich: Wilhelm Busch und Loriot. Briefe von Christa Wolf und Reinhart Koselleck; etliche Male Judith Kerrs "Rosa Kaninchen", schon vor dem Kinofilm. Herrliche Romane, manch einen klugen Essay.

Das Abendland ist also wieder nicht untergangen. Ich habe Hoffnung, dass auch 2020 Menschen Bücher lesen werden, die sie in Buchhandlungen kaufen, wo jemand gerne zuhört. Ich wünsche Ihnen allen richtig nette Kunden dieses Jahr. Dann halten Sie die anderen auch gut aus.


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