Mein Lockdown-Tagebuch (7): Michael Lemling über die Buchhandlung als Home-Office

"Unser größter Trumpf: telefonische Erreichbarkeit"

30. März 2020
von Börsenblatt
Die Türen sind zu. Trotzdem ist es der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl an einem Tag schon mal gelungen, 60 Prozent des normalen Umsatzes zu erzielen. Geschäftsführer Michael Lemling über Teamwork und Kundentreue, über preisverdächtige Feuilleton-Redakteure und drohende Kurzarbeit. Teil sieben unserer "Lockdown-Tagebücher", die als ganz persönliche Krisenbegleiter gedacht sind - geschrieben von Büchermenschen.

Samstag, 28. März 2020. Tag 11 des bundesweiten Lockdowns. Vier Buchhändlerinnen und ein Buchhändler treffen sich um 10 Uhr im Laden. My store is my home-office. Von 11 bis 15 Uhr wollen wir heute telefonisch für unsere Kunden erreichbar sein. Kurze Lagebesprechung,

Abstand halten, Aufgabenverteilung. Einer im Wareneingang, um die Lieferungen der Barsortimente einzuarbeiten und den Postversand vorzubereiten. Eine im Abholfach, die die gelieferten und aus den Regalen zusammengetragenen Bestellungen in Rechnungen verwandelt. Eine Buchhändlerin am Telefon in der Kinderbuch-Abteilung, eine in der Belletristik. Eine als Telefonjoker und Radlkurier.

Um 11:05 Uhr kommt der erste Anruf, der Bann ist gebrochen.

Vier Stunden lang nehmen wir Bestellungen auf, geben Empfehlungen, sprechen über Kinder und Krisen. Zwischendurch schreiben wir kurze Buchtipps, fotografieren uns gegenseitig mit den entsprechenden Büchern in der Hand, um das ganze dann auf Facebook und Instagram zu posten.

Seit drei Tagen ist Lehmkuhl auch auf Instagram! Sparsames Lob von einer meiner Töchter: "Jetzt nicht als hate, aber: euer Profil ist so wie alte Leute sich Instagram vorstellen." Wir üben noch. Um 15 Uhr sind 53 Büchersendungen und Päckchen gepackt, 15 Kunden wurden direkt rund um den Laden beliefert.

Tag 11 war für uns ein eher ruhiger Tag. An den Wochentagen waren wir bislang von 10 bis 17 Uhr erreichbar und hatten fast das doppelte Auftragsvolumen. Die telefonische Erreichbarkeit ist unser größter Trumpf bei geschlossenem Laden, deshalb haben wir uns für möglichst lange Präsenzzeiten entschieden.

"Unser Online-Shop generiert täglich das Zehnfache der bisherigen Umsätze"

Beim ersten Anruf sind viele Kunden noch verblüfft und können es kaum glauben, dass ihre Buchhändlerin tatsächlich am anderen Ende der Leitung ist. Schon vor dem 18. März haben wir alle unsere Möglichkeiten genutzt, um die Botschaft, dass wir trotz Ladenschließung erreichbar sind und liefern können, in unserer Kundschaft und in unserem Viertel zu verbreiten. Nach zwei Tagen hatte sich das in Schwabing herumgesprochen. Seitdem klingelt das Telefon, erreichen uns zahlreiche Mails und unser Onlineshop generiert täglich das Zehnfache bisheriger Umsätze.

Nun gut, der Basiswert ist nicht allzu hoch. Und doch: Wir hatten schon einen Tag, an dem wir mit unserer neuen Ladenlogistik und dem Onlineshop auf über 60 Prozent unseres normalen Umsatzes kamen. Das ist mehr als nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Nach elf Tagen im Krisenmodus wissen wir, dass unsere Kunden Lehmkuhl die Treue halten und auch, dass sie in diesen beängstigenden Zeiten Bücher wirklich brauchen. Manchen sind sie wichtiger denn je.

Getragen werden wir auch von den Feuilleton-Redaktionen des Landes.

Sie haben eine Welle für die Buchhandlungen vor Ort erzeugt, die bei uns und den Kolleginnen und Kollegen ankommt. Hier in München veröffentlicht die Abendzeitung täglich die Lektüreempfehlung einer Buchhändlerin mit Verweis auf die Bestell- und Liefermöglichkeiten ihres Ladens. Wenn die Krise vorbei ist muss der verantwortliche Redakteur einen Preis von uns allen dafür bekommen!

Und noch etwas haben wir in diesen elf Tagen erfahren: wieviel Kraft und Zusammenhalt in unserem Team steckt. Jede und jeder bringt Ideen ein, übernimmt neue Aufgaben, zeigt unbekannte Stärken. Jeden Tag gibt es jetzt diese kurzen Besprechungen und schnellen Entscheidungen. Am nächsten Tag schon werden sie wieder auf die Probe gestellt und modifiziert. Versuch und Irrtum in rascher Folge. Diese Besprechungen erinnern mich an meine besten Zeiten im Kollektiv des Roten Stern in Marburg. 11 Tage und jeder war anders.

Im April gehen auch wir den Weg in die Kurzarbeit, um über die Runden zu kommen. Noch 23 unwägbare Tage bis zum 20. April. Vielleicht dürfen wir dann – vorsichtig – wieder öffnen? Zum Glück hat sich bislang niemand im Team den Virus eingefangen. Hoffentlich bleibt es so. Hoffentlich bleiben alle gesund. Wir wissen es nicht. Aber eines ist sicher: Egal was passiert - unsere Ladentür wird sich wieder öffnen und unsere Kunden werden alle wieder kommen.

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