Interview mit Jérôme Leroy und Max Annas

"Ein deutsch-französischer Roman noir"

4. Februar 2022
von Michael Roesler-Graichen

Zwei Autoren, der eine Franzose, der andere Deutscher, haben abwechselnd einen Kriminalroman geschrieben – Kapitel für Kapitel. Wie sind Jérôme Leroy und Max Annas miteinander klar­gekommen? Würden sie ein solches Experiment erneut wagen?

Was dachten Sie, als die Festivalleitung von Quais du Polar mit der Idee eines »Cadavre exquis«-Krimis auf Sie zukam, also verfasst im Wechselspiel?
Max Annas: Das ist ganz einfach zu formulieren: helle Begeisterung. Eine Erfahrung, eine Herausforderung, ein neues Buch. Alle wesentlichen Reizpunkte meines Arbeitslebens erfüllt.
Jérôme Leroy: Ich war auch gleich ganz angetan von der Originalität des Unternehmens. Es gab mehrere Herausforderungen: das vierhändige Schreiben, was ich noch nie gemacht hatte, aber auch die Sprach-»Barriere«, die eine gewisse Schwierigkeit bedeutete. Und schließlich die – friedliche! – Konfrontation mit einem anderen Schriftsteller und seinem eigenen Universum, einem deutschen Universum noch dazu.

Wie gut kannten Sie sich vorher? 
Max Annas: Aus der Distanz. Wir sind ja Einsame in unserer Tätigkeit. Darüber hinaus arbeiten Jérôme und ich in unterschiedlichen Sprachen und auf den ersten Blick auch in unterschiedlichen Gesellschaften, die unterschiedliche Bücher und Buchkulturen hervorbringen.
Jérôme Leroy: Es gab vorher ein Treffen mit allen Beteiligten per Videokonferenz, also mit Max und mir, unseren jeweiligen Lektorinnen und dem Team vom Quais du Polar, das das Projekt ja angestoßen hat. Da haben wir schon grob den Plot umrissen und begrenzt. Dann habe ich schnell die beiden auf Französisch erschienenen Romane von Max gelesen, »Kodjo« (dt. »Illegal«) und »Enfer blanc« (dt. »Die Mauer«), ich wollte doch wissen, mit wem ich es hier zu tun bekomme – und war gleich erleichtert. 

Hatten Sie ohnehin schon den ­Eindruck, füreinander prädestiniert zu sein?
Max Annas: Im Gegenteil. Wir haben enorm unterschiedliche Schreibansätze. In einer frühen Kommunikation mit Jérôme habe ich ihm dazu einmal gesagt, dass seine Figuren aus einer Position des Wissens heraus kommen, während meine in einer des Staunens zu agieren beginnen. Das lässt sich, so denke ich, auch in unserem gemeinsamen Buch »Terminus Leipzig« sehr schön erkennen. Fraglich natürlich, ob es überhaupt möglich ist, »füreinander prädestiniert zu sein« – bei unserer Art zu arbeiten. Vielleicht liegt darin aber auch gerade ein Reiz des Projekts, sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen: zwei sehr unterschiedlichen Ansätzen zu folgen, unsere Zeit zu betrachten, diese miteinander zu verbinden.
Jérôme Leroy: Ich habe nicht unbedingt den Eindruck, dass unsere Schreibansätze so unterschiedlich sind, aus einem ganz einfachen Grund: Als ich Max gelesen habe, habe ich gemerkt, dass wir aus derselben Familie kommen, aus der des Roman noir. In Frankreich machen wir da einen Unterschied zwischen Kriminalroman und Roman noir. Noir-Autoren interessieren sich mehr dafür, die Gesellschaft darzustellen, als dafür, am Ende der Ermittlungen einen Schuldigen gefunden zu haben.

Wir haben enorm unterschiedliche Schreibansätze. Jérômes Figuren kommen aus einer Position des Wissens heraus – während meine in einer des Staunens zu agieren beginnen. 

Max Annas

Monsieur Leroy, was hat Sie an Max Annas interessiert? Seine Themen – oder seine literarische Raffinesse?
Jérôme Leroy: Die literarische Raffinesse des Originals ist bei einer Übersetzung immer schwer zu beurteilen, obwohl ich finde, dass die Übersetzerin Mathilde Sobottke eine großartige Arbeit macht. Die Themen von »Illegal« und »Die Mauer« haben mich selbstverständlich sehr interessiert, denn es sind ja typische Themen des Roman noir: die Gated Communitys in »Die Mauer«, und wie die Reichen eine Art Sezession vom Rest der Welt betreiben, um unter sich zu bleiben. Und dann spielt der Roman auch noch in Südafrika, da ist der Effekt durch das Post-Apartheid-Klima noch verstärkt. Bei »Illegal« ist es die Geschichte des Migranten ohne gültige Papiere, der in Berlin zu überleben versucht; diese Geschichte könnte sich genauso gut in Frankreich, in Paris, abspielen. Das ist kein deutscher Roman, es ist ein europäischer Roman. 

Herr Annas, was bedeuten Ihnen die Romane von Jérôme Leroy?
Max Annas: Es war gar nicht lange her, dass ich »Der Schutzengel« gelesen hatte, mit großer Begeisterung. Jérôme ist einer der interessantesten Schreiber dieser Tage, so viel wusste ich aus eigener Erfahrung. Er seziert die Lügen französischer Politik mit brutaler Genauigkeit und sehr kühlem Auge.

Ist Ihr Zweierwerk »Terminus Leipzig« die Synthese der Beschäftigung mit Terror in all seinen Ausprägungen?
Max Annas: Ach, mit dem T-Wort in seinen Variationen kann ich eigentlich nicht viel anfangen. Der Wortstamm wird viel gebraucht und fast genau so oft missbraucht. Der Begriff Terrorismus zum Beispiel ist gerade, das ist meine Wahrnehmung, weltweit am häufigsten in der Benutzung, um Leute zu diskreditieren, die im Journalismus und in NGOs arbeiten. Wir haben nach einer Geschichte gesucht, die einen Platz im Heute hat. Und wir haben uns sehr schnell darauf geeinigt, dass sie damit zu tun haben soll, staatliche und nicht-staatliche Figuren darin zusammenzubringen. Was wir in dem Roman darstellen, läuft dann mehr in der Aktion ab als in der Analyse. Ob es also zum Beispiel vorstellbar ist, dass sich Figuren, die innerhalb der Institutionen angesiedelt sind, mit solchen zusammenschließen, die nicht darin platziert sind, müssen die Lesenden dann für sich entscheiden.
Jérôme Leroy: Für mich ging es bei dem Projekt mit Max vor allem darum, ein deutsch-französisches Thema zu finden. Und in beiden Ländern gab es eben einen bewaffneten Kampf der extremen Linken, auch wenn die »bleiernen Jahre« in Deutschland früher waren und auch intensiver. Das fand ich interessant: zusammen mit Max die Spuren zu suchen, die das in beiden Ländern hinterlassen hat, noch ein halbes Jahrhundert später.

Die Bücher von Max und mir kommen aus derselben Familie, aus der des Roman noir. In Frankreich machen wir einen Unterschied zwischen Kriminalroman und Roman noir. Noir-Autoren interessieren sich mehr dafür, die Gesellschaft darzu­stellen, als dafür, am Ende der Ermittlungen einen Schuldigen gefunden zu haben.

Jérôme Leroy

Hatten Sie während des gemeinsamen Romanexperiments einmal die Befürchtung, erzählerisch aus der Kurve zu fliegen? 
Max Annas: Ein Schreibprojekt, in dem die Fliehkräfte der Kurve nicht spürbar sind, erscheint mir langweilig. Aber das gilt für jedes einzelne leidlich interessante Buch, nicht wahr?
Jérôme Leroy: Nein, ich war nie wirklich beunruhigt. Ich glaube, wir wussten alle beide schon von Anfang an, wo die Reise hingehen würde – wenn auch nicht genau, wie es enden würde. Aber die Logik unserer Figuren, ihre Psychologie, hat die Handlung vorangetrieben und ermöglicht, diese gemeinsame Reise abzuschließen.

Zeit für einen kleinen Ausblick: Würden Sie ein solches Experiment wiederholen?
Max Annas: Schon morgen wieder.
Jérôme Leroy: Oder übermorgen!

DAS PROJEKT »TERMINUS LEIPZIG«

Initiiert wurde das Gemeinschaftswerk der beiden Autoren vom internationalen Krimifestival Quais du Polar – im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem Institut Français Leipzig und den Verlagen Points und Edition Nautilus.

Der »vierhändige« Roman von Max Annas und Jérôme Leroy ist in einer Art »Cadavre exquis«-Spiel entstanden. Darunter versteht man eine kreative Methode, bei der mehrere Leute abwechselnd ein Bild oder einen Satz konstruieren, ohne den Inhalt des Vorgängers zu kennen. Hier ist es so, dass der eine Autor nicht wissen kann, wie der andere den Roman fortsetzt.

Darum geht es in dem Roman
Christine Steiner, Kommissarin in einer französischen Antiterroreinheit, versucht den Mord an einem deutschen Ehepaar in Lyon aufzuklären. Die Ermittlungen führen sie nach Leipzig und zugleich in die Geschichte des bewaffneten Kampfs der 70er Jahre. Cornelia Wend hat die französischen Kapitel des Romans ins Deutsche übersetzt. Die deutschsprachige Ausgabe erscheint im März bei Edition Nautilus (128 S., 16 €).