Boykottaufrufe gegen Debattenbuch "Oh Boy"

Kanon Verlag: "Wir nehmen diese Kritik sehr ernst"

17. August 2023
von Börsenblatt

Auf Boykottaufrufe gegen Valentin Moritz' Erzählung im Debattenbuch "Oh Boy", in der er sein sexuell übergriffiges Verhalten gegen den Willen der Betroffenen schildert, reagiert nun der Kanon Verlag: "Wir bedauern es sehr, dass sich eine Person in diesem literarischen Text wiedererkennt." 

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In den Sozialen Medien wird, mit ihrem Einverständnis, das Statement (in Versalien) der Betroffenen geteilt. Darin heißt es unter anderem: "Ich bin die Frau, die durch Valentin Moritz im Mai 2022 sexualisierte Gewalt erlebt hat. Ich bin die Frau, die seit Wochen eine nicht enden wollende emotionale Achterbahnfahrt durchlebt. Weil überall das Buch 'Oh Boy. Männlichkeit*en heute.', erschienen Juli 2023 im Kanon Verlag, gefeiert wird, das Valentin mit herausgibt – und in dem er in einem eigenen Text 'Ein glücklicher Mensch' diesen Übergriff an mir thematisiert." Sie habe bereits im August 2022 ein ganz klares Nein (auch schriftlich) dazu ausgesprochen, diesen Abend, diese Tat literarisch zu verarbeiten. "Wenn er dieses Nein akzeptiert hätte, hätte dies natürlich die Tat nicht ungeschehen gemacht. Aber ich wäre heute ein bisschen mehr das, wovon sein Text vorgibt zu Handeln. Ein glücklicher Mensch." 

Sie betont aber auch: "Ich möchte darauf hinweisen, dass es mir dezidiert um den Text von Valentin Moritz geht und nicht um weitere Texte in der Anthologie."

In den Social Media finden sich bereits etliche Solidaritäts-Posts. Unter anderem wird darauf hingewiesen, dass die Betroffene bereits vor vier Wochen unter dem Release-Post des Kanon Verlags gefordert hätte, das Buch zu boykottieren. 

Anfang August hatte das Literaturhaus Rostock eine auf den 18. September angesetzte Veranstaltung zum Buch "Oh Boy" mit den beiden Herausgebern Donat Blum und Valentin Moritz abgesagt.

Im Vorwort von "Oh Boy" schreibt Valentin Moritz zur Entstehung der Anthologie: "Ich, Valentin, kam zu diesem Zeitpunkt gerade aus einer langjährigen heterosexuellen Beziehung. Wie sehr ich darin klassisch 'männliche' Verhaltensmuster bedient hatte, wurde mir erst nach und nach bewusst. Anstatt darauf zu hören, was meine damalige Partnerin und ich wirklich wollten, hatte ich viel zu oft geglaubt, einem bestimmten Bild von mir als Mann entsprechen zu müssen." Nachdem sie die Beziehung aufgelöst hatten, habe er begonnen, sich gezielter mit Feminismus und kritischer Männlichkeit zu beschäftigen. 

Kanon Verlags: Abwägungsprozess ist nicht abgeschlossen

Die Stellungnahme vom 17. August findet sich auf der Website des Kanon Verlags. Die Anschuldigungen und Boykottaufrufe zu "Oh Boy" hätten den Verlag über ein anonymes Profil sowie einen nicht-personalisierten Instagram-Account erreicht, heißt es darin. Sie bezögen sich auf die Erzählung "Ein glücklicher Mensch" von Valentin Moritz in "Oh Boy". Moritz ist Mit-Herausgeber des Buches, das am 12. Juli bei Kanon erschienen ist. 

Weiter heißt es in der Stellungnahme: "In der geäußerten Kritik wird besonders die fehlende Opferperspektive betont. Dies ist der Wahrung von Privat- und Intimsphären geschuldet, gibt aber zu Recht Anlass zur Kritik. Wir nehmen diese Kritik sehr ernst."

Den Text im Rahmen eines vielstimmigen Debattenbuchs zu veröffentlichen, sei in einem intensiven rechtlichen, künstlerischen und moralischen Abwägungsprozess geschehen, "den wir nicht als abgeschlossen betrachten", so der Verlag. "Insofern sehen wir die jetzt aufgeführten Argumente und Sichtweisen als hilfreich an."

"Ein glücklicher Mensch" setzte sich auf literarische Weise mit Täterschaft und patriarchaler Gewalt auseinander. Der Erzähler suche darin eine Sprache für männliche Täterschaft. Das sei eine Position, für die es im Diskurs kritischer Männlichkeit bisher nur wenig Worte gebe. "Valentin Moritz hat in seinem Text einen Weg gewählt, eine Täterschaft zu thematisieren, ohne dabei auf ein konkretes Ereignis zu referieren oder mögliche reale Personen erkennbar zu machen", argumentiert Kanon. "Wir bedauern es sehr, dass sich eine Person trotzdem in diesem literarischen Text wiedererkennt."

"Oh Boy" wolle Diskurse und Debatten anstoßen und die Prinzipien männlicher Sozialisation hinterfragen. Dazu gehöre nach Ansicht des Verlags auch, männliche Täterschaft zu thematisieren. "Ob und wie über sexualisierte Gewalt aus Täterperspektive gesprochen werden sollte, ist eine hochkomplexe Frage, deren Beantwortung viel Schmerz verursachen kann. Aber die unserer Ansicht nach gestellt werden muss."

Am Ende der Stellungnahme betont der Verlag, dass sich Valentin Moritz entgegen der im Boykottaufruf formulierten Behauptung, nicht an den Erlösen von "Oh Boy" bereichere. "Bereits vor Drucklegung hat er sein Vorschusshonorar an eine Organisation gespendet, die Frauen und Zugehörige anderer Geschlechtsidentitäten in Fällen von sexualisierter Gewalt berät. Er wird so auch mit etwaigen Gewinnen aus dem Buch verfahren."

Neuauflage ohne die Erzählung?

Auf den Vorschlag eines Beitrags in den Sozialen Medien, das Buch neu aufzulegen, diesen einen Text herauszunehmen und einen erläuternden in ein Vorwort zu packen, geht der Kanon Verlag in seiner Stellungnahme nicht ein.