Entscheidung der Schwedischen Akademie

Literaturnobelpreis 2022 geht an Annie Ernaux

6. Oktober 2022
von Börsenblatt

Vor der internationalen Presse hat in Stockholm der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Mats Malm, das bestgehütete Geheimnis verkündet: Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis 2022.

Literaturnobelpreis 2022: Schriftstellerin Annie Ernaux

Die am 1. September 1940 in Lillebonne geborene Ernaux wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf, ihre Eltern führten in der Normandie einen Krämerladen mit Café. Nach dem Besuch eines Mädchenpensionats studierte Ernaux Literaturwissenschaften in Paris, unterrichtete an einem Gymnasium und promovierte 1971. Später unterrichtete sie als Dozentin an der staatlichen Fernuniversität.

Jurymitglied Anders Olsson begründete die Entscheidung, Ernaux habe die Auszeichnung bekommen "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Zwänge der persönlichen Erinnerung aufdeckt". Ernaux stehe in der französischen Tradition, schreibe eine strenge Prosa mit Blick auf soziale Kontexte, zeichne engagiert arme und ehrgeizige Charaktere aus dem Umland. Sie kreise um die Themen Geschlecht, Sprache und Klasse, "früh schon setzte sie sich literarisch mit ihren Erfahrungen von Klasse und Herrschaft auseinander als Erinnerungsprojekt, das die Grenzen der Literatur über die Fiktion im engeren Sinne hinaus erweitert." Vor allem aber: "Sie hat die Literatur in vielerlei Hinsicht wirklich erneuert." Welches Buch sollte man zum Einstieg in ihr Werk lesen? "'Der Platz'", empfahl Olsson auf Nachfrage.

Auf die Frage eines Journalisten, was die Jury den Schriftstellern außerhalb von Europa nach der Entscheidung für eine Europäerin sagen könne, betonte Anders Olsson, dass die Jury viele unterschiedliche Kriterien im Blick habe: "Wir können nicht alle erfüllen, die allerwichtigste jedoch ist die literarische Qualität in den Werken des Preisträgers. Wir versuchen, alle Regionen dieser Erde zu berücksichtigen, im vergangenen Jahr kam der Preisträger nicht aus Europa, es war ein Mann, dieses Jahr ist es eine Frau." Es sei sicher keine einfache Aufgabe, entsprechend verliefen auch die intensiven Diskussionen. In ihre Diskussionen mochte die Jury auf Nachfrage einer Journalistin aber keine Einblicke geben, sie seien geheim, sagte Ellen Mattson, die mit Olsson, Steve Sem-Sandberg, Anne Swärd und Per Wästberg die Jury des Literaturnobelpreises bildet. Sie gehören zu den insgesamt 18 Mitgliedern der Schwedischen Akademie, die Sie hier finden.

Bibliografie: Deutsche Ausgaben

Auf Deutsch sind bei Suhrkamp viele Titel von Annie Ernaux lieferbar – alle ins Deutsche übersetzt von Sonja Finck:

  • "Das andere Mädchen", Ü: Sonja Finck (Bibliothek Suhrkamp; ET: 10. Oktober 2022) – 18 Euro
  • "Das Ereignis", Ü: Sonja Finck (Suhrkamp; ET: 10. Oktober 2022) – 11 Euro
  • "Die Scham", Ü: Sonja Finck (Suhrkamp; ET: 21. November 2022) – 11 Euro
  • "Das Ereignis", Ü: Sonja Finck (Bibliothek Suhrkamp; ET: 12. September 2021) – 18 Euro
  • "Eine Frau", Ü: Sonja Finck (Suhrkamp; ET: 10. Mai 2021) – 10 Euro
  • "Der Platz", Ü: Sonja Finck (Suhrkamp; ET: 14. Dezember 2020) – 10 Euro 
  • "Die Scham", Ü: Sonja Finck (Bibliothek Suhrkamp; ET: 17. August 2020) – 18 Euro
  • "Erinnerung eines Mädchens", Ü: Sonja Finck (Suhrkamp; ET: 20. Januar 2020) – 12 Euro
  • "Eine Frau", Ü: Sonja Finck (Bibliothek Suhrkamp; ET: 27. Oktober 2019) – 18 Euro
  • "Die Jahre", Ü: Sonja Finck (Suhrkamp; ET: 17. Juni 2019) – 12 Euro
  • "Der Platz", Ü: Sonja Finck (Bibliothek Suhrkamp; ET: 10. März 2019) – 18 Euro
  • "Erinnerung eines Mädchens", Ü: Sonja Finck (Suhrkamp; ET: 2. Oktober 2018) – 20 Euro
  • "Die Jahre", Ü: Sonja Finck (Bibliothek Suhrkamp; ET: 11. September 2017) – 18 Euro
  • "Une Femme". Französischer Text mit deutschen Worterklärungen (Reclam Fremdsprachentexte; ET: 1991) – 5,20 Euro

Hörbücher

  • "Der Platz". Hörspiel mit Stephanie Eidt (1 CD). (Der Audio Verlag; ET: 24. Juli 2020). Gelesen von Stephanie Eidt, übersetzt von Sonja Finck. Regie: Erik Altorfer
  • "Die Jahre". Hörspiel mit Corinna Harfouch u.v.a. (1 CD). (Der Audio Verlag; ET: 31. Januar 2019). Gelesen von Corinna Harfouch, Birte Schnöink, Constanze Becker, Nicole Heesters. Regie: Luise Voigt. Übersetzt von Sonja Finck.
  • "Erinnerung eines Mädchens". Ungekürzte Lesung mit Maren Kroymann (4 CDs). (Der Audio Verlag; ET: 26. Oktober 2018). Übersetzt von Sonja Finck.

 

Verfilmungen

Etliche Stoffe von Annie Ernaux wurden verfilmt, im März 2022 kam der französische Streifen "Das Ereignis" (2021) (Originaltitel: L’événement) in die deutschen Kinos. Regie: Audrey Diwan. Der gleichnamige autofiktionale Roman von Annie Ernaux behandelt die ungewollte Schwangerschaft und die darauf folgende Abtreibung einer jungen Literaturstudentin im Frankreich der 1960er-Jahre.

2021 wurde der Film im Wettbewerb der 78. Internationalen Filmfestspiele von Venedig uraufgeführt, gewann dort den Goldenen Löwen. Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei wurde ebenfalls ausgezeichnet.

Preisverleihung

Das Preisgeld beträgt 10 Millionen SEK (umgerechnet rund 924.000 Euro). Die Auszeichnung wird in der Regel am Nobelpreistag, den 10. Dezember, vom König in der Stockholmer Konzerthalle überreicht. Diese traditionelle Preisverleihung wurde 2020 und 2021 aufgrund von Covid-19 gestrichen.

Ein Aufsteller in Form der Nobelmedaille weist vor dem Nobelpreismuseum in der Stockholmer Altstadt auf die Nobelpreis-Bekanntgaben hin. In der Schwedischen Akademie, die oberhalb des Museums zu Hause ist, wird der Nobelpreis für Literatur verkündet (Foto: 2021)

Auf wen hatten die Buchmacher gesetzt?

Vor Bekanntgabe der Preisträgerin oder des Preisträgers kursieren jedes Jahr Spekulationen, wer denn wohl das Rennen macht. Laut yahoo!news vom 5. Oktober hatten die Buchmacher in diesem Jahr Haruki Murakami, Chimamanda Ngozie Adichie und Salman Rushdie favorisiert.

Weitere Namen auf die gewettet wurde, waren: Michel Houellebecq, Ngugi Wa Thiong, Stephen King, Annie Ernaux, Garielle Lutz, Pierre Michon, Anne Carson, Robert Coover, Hélène Cixous, Jon Fosse, Lyudmila Ulitskaya, Margaret Atwood, Maryse Condé und Jamaica Kincaid.

Zahlen zum Literaturnobelpreis

  • 114 Auszeichnungen wurden seit 1901 vergeben. Siebenmal gab es keinen Literaturnobelpreis: 1914, 1918, 1935, 1940-1943. 2018 wurde die Preisvergabe ausgesetzt, ein Jahr später dann aber nachgeholt.
  • 4 Mal gab es zwei Preisträger*innen: 1904 (Frédéric Mistral, José Echegaray), 1917 (Karl Gjellerup, Henrik Pontoppidan), 1966 (Shmuel Agnon, Nelly Sachs) und 1974 (Eyvind Johnson, Harry Martinson)
  • 118 Personen haben bis 2021 einen Literaturnobelpreis erhalten: Liste der Preisträger:innen
  • 41 Jahre alt war der bislang jüngste Preisträger: Rudyard Kipling, der 1907 ausgezeichnet wurde.
  • 88 Jahre alt war die bislang älteste Preisträgerin: Doris Lessing, die 2007 ausgezeichnet wurde.
  • 16 Frauen erhielten bislang den Literaturnobelpreis – als erste Selma Lagerlöf 1909. Zuletzt folgten ihr: Herta Müller (2009), Alice Munro (2013), Svetlana Alexievich (2015), Olga Tokarczuk (2018) und Louise Glück (2020).
  • 2 Preisträger haben die Auszeichnung abgelehnt: Boris Pasternak 1958 und Jean Paul Sartre 1964.

(Quelle: https://www.nobelprize.org)