Debüts des Monats - Januar 2022

Spurensuche in die Vergangenheit

23. Januar 2022
von Stefan Hauck

Sich nirgendwo richtig dazugehörig zu fühlen – das ist eine Erfahrung, die über Generationen hinweg weitergegeben wird: Laura Cwiertnia schafft in "Auf der Straße heißen wir anders" leise Bilder und Szenen, die haften bleiben.

Sich nirgendwo richtig dazugehörig zu fühlen – das ist eine Erfahrung, die über Generationen hinweg weitergegeben wird: Die in Bremen geborene Karla stammt aus einer armenischen Familie, und Laura Cwiertnia zeigt in kleinen Kapiteln über Karlas Vater, über ihre Groß- und Urgroßmutter, welch bittere Schicksale damit verbunden sind – bis zum Genozid 1915. Mit seinen Eltern hatte der Vater Avi als Kind Armenisch gesprochen, aber nur zuhause, eingebaut in türkische Sätze, draußen auf den Straßen Istanbuls versuchten die Armenier, so unauffällig wie möglich zu bleiben und sich nicht durch ihre Sprache zu verraten. Dann wurde er von einem auf den anderen Tag in ein armenisches Internat in Jerusalem verfrachtet, wo nur Armenisch gesprochen wurde und die Lehrer murrten, wenn die Jungen untereinander Armenisch sprachen: Wenn Sprache Identität bedeutet, verdeutlicht Cwiertnia, dann wird es für Kinder zum permanenten innerlichen Balanceakt, diese Identität anzupassen oder zu verleugnen.

 

Avis Mutter wiederum trennt sich in Istanbul von ihrem Mann und besteigt den Zug nach Deutschland, um als „Gastarbeiterin“ auf eigenen Füßen zu stehen, eine Zeit mit vielen Entbehrungen, Entrechtungen, Demütigungen, aber auch die zum Aufbruch in ein selbstbestimmteres Leben. Bei ihrem Tod hinterlässt sie einen alten Armreif und einem Zettel „Lilit Kuyumcian“, den Cwiertnia als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung Karlas mit der eigenen Familienvergangenheit setzt: Karla bringt ihren Vater Avi dazu, zum ersten Mal nach Armenien zu reisen, gemeinsam, und sich auf Spurensuche nach Lilit zu begeben. Laura Cwiertnia, 1987 in Bremen als Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, schafft leise Bilder und Szenen, die haften bleiben, die Leser:innen aufwühlen und Fragen stellen. Sie erzählt nicht chronologisch, sondern verknüpft jedes kurze Kapitel mit der Perspektive einer der Figuren und kontrastiert sie. Wie beim Häuten einer Zwiebel gelangt die Leserin immer tiefer zum Kern der Geschichte vor, die unsagbares Leid enthält, das so tief sitzt, dass es nicht ausgesprochen werden kann. Eine Literatur mit starkem Nachhall.

Laura Cwiertnia: "Auf der Straße heißen wir anders", Klett-Cotta, 240 S., 22 €

Januar

Selene Mariani
Ellis
Wallstein20,00 EuroISBN 9783835351523
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Laura Cwiertnia
Auf der Straße heißen wir anders
Klett-Cotta22,00 EuroISBN 9783608981988
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Februar

Mattia Insolia
Die Hungrigen
Karl Rauch Verlag GmbH & Co. KG22,00 EuroISBN 9783792002698
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Constantin Schwab
Das Journal der Valerie Vogler
Droschl, M20,00 EuroISBN 9783990590997
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