Interview zum Jahreswechsel (6): Katharina Gerhardt, freie Lektorin

"Was ist das für ein gruseliges Kurz-Kompositum?"

13. Dezember 2021
von Sabine Cronau

Ein (fast) paritätisch besetztes Kabinett ist ein Fortschritt, wenn es um die Sichtbarkeit von Frauen geht. Katharina Gerhardt, freie Lektorin, hat in diesem Punkt trotzdem noch Wünsche für 2022 - speziell an den Literaturbetrieb. Und verrät ihr persönliches Unwort des Jahres.

"Sichtbarkeit von Frauen": Das ist ihr Themenschwerpunkt als Co-Autorin, freie Lektorin und Dozentin. Hat das Jahr 2021 Bewegung in das Thema gebracht?
Auf bundespolitischer Ebene hat sich 2021 einiges getan. Zentrale Ministerien gehen an Frauen, das Kabinett ist (fast) paritätisch besetzt. Frauen in Spitzenämtern bedeuten immer Sichtbarkeit. Nur wer sichtbar ist, kann Vorbild sein. Das wird positive Folgen für jüngere Frauen haben: Wenn ich als Zwanzigjährige sehe, dass eine Vierzigjährige das Außenamt leitet, entfacht das meine Vorstellungskraft.

In der Buchbranche haben die BücherFrauen mit dem Literaturpreis Christine an Mely Kiyak für ihr Buch "Frausein" 2021 erstmals einen hochdotierten Preis verliehen, der künftig alle zwei Jahre an Autorinnen vergeben werden soll, "die mit ihrem Schreiben zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Stärkung von Frauen und Mädchen beitragen". Dieser Preis fördert Sichtbarkeit von Frauen, ebenso wie Nicole Seiferts lesenswertes Buch "Frauenliteratur", das darlegt, weshalb es Autorinnen im Literaturbetrieb immer noch schwerer haben als Männer. Seifert analysiert die Rahmenbedingungen des Betriebs, in dem lange hauptsächlich der männliche Blick als Standard galt.

Stipendien sollten wahlweise vor Ort ausgezahlt werden. Denn Autorinnen sind oft Mütter.

Katharina Gerhardt, freie Lektorin, Co-Autorin, Dozentin

Was sollte sich bei der Sichtbarkeit von Frauen 2022 unbedingt noch verbessern - in der Buchwelt wie in der Gesellschaft?
Stipendien für Autorinnen sollten im Jahr 2022 nicht mehr an irgendwelche Stadtschreiberposten oder Residenzen gekoppelt sein, sondern wahlweise vor Ort ausgezahlt werden. Denn: Autorinnen sind oft Mütter. Schriftstellerinnen fördern heißt also auch, ihnen dort Schreibzeit zu ermöglichen, wo ihre Kinder betreut werden oder zur Schule gehen. Ich wünsche mir hier einen geschärften Blick der Geldgebenden für gesellschaftliche Realitäten.

Wir sollten uns viel stärker ins Bewusstsein rufen, was Frauen in der Corona-Pandemie alles wuppen. Ein Blick ins Twitter-Profil der Suhrkamp-Autorin Simone Buchholz aka @ohneklippo ist da hilfreich: Sie beschreibt mit drastischen Worten, wie das Homeschooling einfach nonchalant auf die Schreibtische der Mütter gekippt wurde. Und wie die Gesellschaft erwartet hat, dass Mütter das schon klaglos erledigen und hinkriegen werden.

Wir Frauen, die wir die Buchbranche in all ihren Facetten beruflich gestalten mit unserer Leidenschaft und Akribie sollten uns an Simone Buchholz‘ Offenheit ein Beispiel nehmen und uns noch viel selbstverständlicher in der Öffentlichkeit – digital und analog – zu Wort melden: über unsere Arbeit sprechen, zeigen, was wir denken, wissen und können. Und dabei deutlich darauf hinweisen, was noch zu tun ist – als sichtbare Ermutigung und Ermächtigung.

Wie sind Sie als freie Lektorin bislang durch die Corona-Krise gekommen?
Erstaunlich gut. Die ersten zwei, drei Wochen im März 2020, als Corona losging, herrschte zwar komplette Flaute in meinem Posteingang – so eine Art Schockstarre. Ich hatte das allerdings das Glück, bereits vorher ein Buchprojekt als Co-Autorin bei Rowohlt akquiriert zu haben, das mich bis Mitte 2020 gut beschäftigte. Ein paar Übersetzungslektorate wurden von den Verlagen verschoben, doch bewährte Kooperationen blieben bestehen, auch weil sie schon lange digital ablaufen. Neue Verlagskunden sind dazugekommen. Ich hatte und habe gut zu tun.

Welches Wort wollen Sie im neuen Jahr auf keinen Fall mehr lesen? Anders formuliert: Was ist Ihr persönliches Unwort 2021?
Corona-Demo. Was ist das für ein gruseliges Kurz-Kompositum? Gegen ein Virus kann man nicht demonstrieren, dem ist ja völlig wumpe, ob da Menschen mit Transparenten herumlaufen: Es infiziert einfach alle, die sich nicht impfen lassen. Korrekterweise müsste es „Demonstration gegen Corona-Maßnahmen“ heißen. Ich hoffe doch sehr, dass wir uns als Gesellschaft auf Kants kategorischen Imperativ besinnen und uns solidarisch, massiv und schnell aus der Pandemie herausimpfen werden. Dann muss ich dieses Unwort auch nicht mehr lesen.

Sie lehren "Medien und Literatur" an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Haben Sie einen Wunsch ans Sommersemester?
Ja: wieder analog zu unterrichten. In der digitalen Lehre habe ich begriffen, wie wichtig die Gruppe für den Lernfortschritt der Studierenden ist. Wir lernen immer auch von anderen. Ich bin froh um die digitalen Mittel im Department Information der HAW, und wir Dozierende bemühen uns enorm um Aktivierung im Online-Seminar. Doch das Studium besteht eben aus so viel mehr als aus vor der Kamera gehaltenen Referaten, geteilten Bildschirmen und Links auf Moodle-Plattformen. Studierende auf dem Campus wieder miteinander quatschen und lachen hören. Das wär’s.

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