Börsenblatt Young Excellence Award 2021

Tino Schlench: Rebell im Palast

30. Juli 2021
von Isabella Caldart

Tino Schlench hat einen auf osteuropäische Literatur spezialisierten Instagram-Account mit dem klangvollen Namen Literaturpalast und gehört - trotz dieser Nische - inzwischen zu den erfolgreichsten Buchblogger*innen im deutschsprachigen Raum und ist für den Young Excellence Award 2021 nominiert. Einfach war sein Werdegang nicht. Eine Aufstiegsgeschichte.

Dass Literatur auch Rebellion bedeuten kann, beweist die Biografie von Tino Schlench. Im Internet bekannt ist er heute als Literaturpalast, hat einen beliebten Instagram-Account, Blog und Podcast und unterhält diverse Kooperationen, mit denen er sich für seine große Leidenschaft einsetzen kann: die osteuropäischen Literaturen. Der Weg dahin war aber ein weiter.

Literatur als Revolte

Aufgewachsen ist Tino Schlench in einem 200-Einwohner-Dorf in der Uckermark, „Maximalprovinz“, wie er trocken sagt. „Als junger Mensch habe ich mich sehr eingeengt gefühlt.“ In dieser Umgebung war die Literatur eine Möglichkeit zur Flucht. Wobei er aus anderen Gründen mit dem Lesen begann: „Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und war ein klassisches Fernsehkind. Das Lesen spielte bei uns zu Hause keine Rolle, Bücher waren kaum vorhanden. Dass ich zur Literatur gekommen bin, war im Grunde Teil einer pubertären Revolte.“ Sich in der Stadtbibliothek mit Büchern einzudecken, diente somit auch der Abgrenzung. „Es war eine Punkrock-Attitüde ohne Punk und ohne Rock“, sagt er mit einem Schmunzeln. „Trinken oder rauchen hätte niemanden schockiert – lesen schon.“

Er las zunächst ohne Kompass und lieh sich wahllos Bücher aus. Eine Orientierung lieferten ihm Bekanntheit und renommierte Preise, was dazu führte, dass er schon im Alter von 17, 18 auf Autor*innen wie Toni Morrison oder Günter Grass stieß. Eine Art Erweckungserlebnis. „Ich dachte früher völlig naiv, in Romanen ginge es nur um ernste Dinge, die Figuren seien alle tugendhaft und humorbefreit – aber dann fängt man an zu lesen und erkennt: Oh, Sexualität in all ihren Spielarten taucht darin auf, die Charaktere sind völlig kaputt, beschimpfen sich oder bringen einander um. Da geht ja was!“

Im Literaturpalast habe ich bisher Bücher aus fast 30 osteuropäischen Ländern vorgestellt. Und es gibt noch so viel zu entdecken!

Tino Schlench

Sehnsuchtsort Europa

Prägend waren für Tino Schlench aber nicht nur die ersten Lektüreerfahrungen, sondern auch ein Schüleraustausch, den er um die Jahrtausendwende in einer Baptistenfamilie im US-Bundesstaat Indiana verbrachte. „Seitdem schockiert mich eigentlich nichts mehr“, sagt er mit einem Lachen. „Ich hatte die Hoffnung, auszubrechen – und kam dann in eine stark religiöse, noch viel beengtere Welt.“ Die USA bleiben eine „Hassliebe“ für ihn, wie er es formuliert. Knapp 15 Jahre später wird er in das Land zurückkehren und als Gastwissenschaftler an der University of California in Berkeley arbeiten. Diese zwei Jahre veränderten vor allem sein Verhältnis zur eigenen Herkunft. „Ich habe gemerkt, dass ich nach Europa gehöre und habe mich sehr danach gesehnt.“

Nach dem Abitur begann er 2003 mit dem Studium der Kulturwissenschaft und Germanistik in Leipzig, ein Jahr darauf wechselte er nach Berlin. Ein Erasmusjahr führte ihn im Alter von 23 Jahren schließlich nach Wien, nachträglich betrachtet „das bisher schönste Jahr meines Lebens“. „Es war aufregend“, schwärmt Schlench, „ich habe in einem linken aktionistischen Hausprojekt gewohnt, was mich sehr politisiert hat“. In dieser Zeit begann er, sich verstärkt mit queerfeministischer Theorie auseinanderzusetzen. „Wir haben alles Mögliche gelesen, von Foucault bis Butler. Ob wir das auch verstanden haben, ist natürlich eine andere Frage. Aber mein theoretisches Fundament wurde damals gelegt.“ Später, nach dem Studium, verschlug es ihn wieder in die Stadt. Von 2015 bis 2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und arbeitete im Bereich Wissenschafts- und Geschlechtergeschichte. Der österreichischen Hauptstadt blieb er auch nach dem Auslaufen seiner Uni-Stelle treu.

Osteuropäische Literatur – eine Nische?

Als Kind der DDR, die er nie wirklich miterlebte (beim Mauerfall war er sechs Jahre alt) hat Tino Schlench seit langem ein großes Interesse an ostdeutscher Literatur. „Sie gibt mir die Möglichkeit, etwas über das Leben zu erfahren, das ich knapp verpasst habe.“ Dass er seinen Fokus auf die osteuropäischen Literaturen erweitert hat, ist auch dem Leben in Wien zu verdanken, wo die alte Donaumonarchie und die Nähe zum Balkan eine große Rolle spielen. Zudem verschlägt es den Reiselustigen immer mal wieder für mehrere Wochen oder Monate in osteuropäische Länder, so zum Beispiel nach Polen, Ungarn oder Georgien. „Ich betone aber: Ich bin kein Spezialist, ich spreche die Sprachen nicht. Meine Kenntnisse in diesem Bereich habe ich mir durch Eigeninitiative angelesen. Es ist ein fortlaufendes Projekt.“

Als er im August 2018 einen Buch-Account auf Instagram anlegte, war somit seine Fokussierung auf osteuropäische Literaturen von Anfang an klar. „Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits sehr viele Blogs und Social-Media-Accounts, die sich mit Literatur auseinandersetzten. Den Osten suchte ich aber vergebens. Der Region wird leider mit sehr viel Desinteresse begegnet.“ Literatur aus Osteuropa gilt zwar als ein Nischenprodukt, ist aber sehr divers, wie Tino Schlench betont. Deswegen weist er die häufig gestellte Frage zurück, ob er sich mit diesem Schwerpunkt nicht einschränken würde. „Osteuropa ist ein sehr großes Feld. Im Literaturpalast habe ich bisher Bücher aus fast 30 Ländern vorgestellt – Romane, Lyrikbände, Essays und Reisereportagen. Ich fühle mich nicht eingeengt, im Gegenteil. Es gibt noch so viel zu entdecken.“

Der Bewohner des Palasts

Apropos Literaturpalast: Was hat es eigentlich mit diesem Namen auf sich? „Das ist ein ironischer Verweis auf die Kultur- und Wissenschaftspaläste im ehemaligen Ostblock, die einst im hellen Glanz erstrahlten, heute aber teilweise sehr heruntergekommen sind.“ Wichtig ist auch: „Ich bewohne den Palast, ich bin es aber nicht.“ Bedeutet, dass Tino Schlench auf seinen Kanälen verhältnismäßig wenig Privates teilt. Seine Beiträge haben trotzdem einen persönlichen, aussagekräftigen Stil. Das beginnt bei den Fotos, die seine Texte begleiten; mitunter entstehen sie in Zusammenarbeit mit Künstler*innen oder Museen. „Die Bücher, die ich vorstelle, sind häufig eher unbekannt. Gerade auf Instagram benötige ich daher ein ansprechendes Foto. Das Bild ist gewissermaßen die Überschrift.“ Teilweise dauert es Tage, bis er eine gute Idee hat und diese umsetzen kann.

Auch seine Texte haben einen hohen Wiederkennungswert, sind häufig keine Rezensionen, sondern eine spezielle Auseinandersetzung mit Inhalt und Stil des jeweiligen Buches. „Ich möchte nicht in Konkurrenz zu klassischen Medien treten, sondern eine eigene Form finden. Die Texte sollen auch dann funktionieren, wenn man das Buch nicht kennt, vielleicht nicht einmal lesen möchte. Das Ideal ist, dass sie unterhalten.“ Und das klappt: Rund 9.500 Abonnent*innen auf Instagram hat der Literaturpalast inzwischen, zudem gewann er 2020 den Buchblog-Award.

​​​​​​​Neustart als Freiberufler

Die Qualität seiner Inhalte bleibt auch Auftraggebern nicht verborgen. Als er nach dem Auslaufen seiner Stelle an der Uni Wien lange Zeit arbeitslos war, macht sich Tino Schlench als Freiberufler einen Namen: Für Traduki, dem Netzwerk für südosteuropäische Literatur, produziert er seit 2020 einen monatlichen Podcast, für den Instagram-Kanal BooksUp! hat er mehrere Video-Beiträge gedreht, für die Büchereien Wien organisiert er gemeinsam mit der Bloggerin Linda Dreier (@pagesonpaper) einen digitalen Lesekreis. Seit Mai dieses Jahres arbeitet er im Bereich Presse und Programmplanung im Wiener Verlag TEXT/RAHMEN. Darüber hinaus moderiert er Lesungen und Buchpräsentationen.

Und so geht es auch weiter: Diesen Sommer und Herbst wird Tino Schlench als Fellow eines Programms vom Institut für Auslandsbeziehungen beim Internationalen Lyrikfestival Meridian Czernowitz in der Ukraine hospitieren, im Anschluss geht es für ihn als Stipendiat des Internationalen Journalistenprogramms nach Bukarest. Er ist der erste Buchblogger, der für seine Arbeit mit einem Journalistenstipendium ausgezeichnet wurde. Sein leidenschaftliches Engagement für die Literaturen Osteuropas macht sich inzwischen also bezahlt. Er wird auch in Zukunft dabeibleiben. „Der Palast konzentriert sich auf Osteuropa“, sagt Tino Schlench mit Bestimmtheit. „Dieses Profil möchte ich nicht verwässern. Dadurch liefere ich Integrität und Authentizität in allem, was ich tue.“ Ein Rebell mit Geradlinigkeit.

Auf ein Wort:

Naher Osten: „Was die Himmelsrichtung anbelangt, bin ich wohl ziemlich festgelegt. Bei meinem ersten Aufenthalt in Jerusalem habe ich mir in den Kopf gesetzt, einmal in dieser faszinierendsten aller Städte zu leben. Wenig später war ich dann Praktikant in der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem und im Anschluss bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv. Ich bin dem Land sehr verfallen, mein Hebräisch ist aber eine Katastrophe.“

Wiener Kaffeehäuser: „Das Kaffeehaus ist ein wundersamer Ort und gehört zu den Sachen, die ich an meiner Wahlheimat besonders schätze. Ohne Musikbeschallung kann man hier in aller Ruhe arbeiten, lesen oder mit Freunden plaudern. Die Qualität des Kaffees ist hoch, die Preise allerdings selten niedrig.“

Knoblauch: Knoblauch ist meine Leibspeise. Bei der Verwendung folge ich gern dem Prinzip: Mehr ist mehr! Ich koche sehr gern für Freund*innen und bin der Meinung, dass sie auch Tage später noch Freude an meiner Gastfreundschaft haben sollen.

Zur Person:

Tino Schlench, geboren 1983 im brandenburgischen Prenzlau, studierte Kulturwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in Leipzig und Berlin. Seit 2015 lebt er in Wien, wo er im August 2018 den Instagram-Account Literaturpalast ins Leben rief, zu dem inzwischen auch eine Website (literaturpalast.at) und ein Podcast (Literaturpalast Audiospur – Geschichten aus Südosteuropa) gehören. Er ist Mitarbeiter im Verlag TEXT/RAHMEN in Wien und arbeitet freiberuflich in den Bereichen Moderation, Podcasting und Social-Media-Management.

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