Es fällt mir nicht leicht, für das Lockdown-Tagebuch einen Beitrag zu verfassen - weil ich selbst kein Tagebuch führe und nur vermuten kann, was meine Leserinnen und Leser von einem "Teilzeitrentner" im nun amtlich verordneten "Ruhestand" wissen möchten. Immerhin war und bin ich unserer Branche, dem Buchhandel, seit 50 Jahren sowohl beruflich als auch ehrenamtlich verbunden. Insofern ist es mir bisher als Rentner nie langweilig geworden, weil es bei Umbreit und im Börsenverein immer noch etwas für mich zu tun gab.
Seit dem 13. März sieht es anders aus, weil ich zur Risikogruppe gehöre, die mit vielen Einschränkungen und (Kontakt-)Verboten vor der Ansteckung mit dem Corona-Virus bewahrt werden soll. Ich soll deshalb das Haus nicht verlassen, kann zum Glück den Garten genießen; aber von einer "splendid isolation" bin ich meilenweit entfernt.
Ich habe viel Zeit, mich "aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten", aber die Kommunikation und der Kontakt von Mensch zu Mensch beschränken sich auf meine Ehefrau und eine unserer Töchter, die gerade zu Hause ist und für uns einkauft. Alle anderen Kontakte laufen nur noch über Telefon, E-Mail und sozialen Medien. Als "Teilzeitrentner" habe ich immer noch genügend zu tun; deshalb wird es mir auch daheim nicht langweilig; aber es treibt mich um, wie die Corona-Pandemie und die Versuche, sie in den Griff zu bekommen, Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr lahmlegen.
Zum Glück besinnen sich viele Leute darauf, dass sie jetzt Zeit zum Lesen haben und Bücher helfen können, mit den Einschränkungen der persönlichen Freiheit leben zu lernen (Camus: Die Pest und Márquez: Die Liebe in Zeiten der Cholera lassen grüßen!). Und zum Glück bieten viele der geschlossenen Buchhandlungen ihre Dienste im Internet an, sind so oder per Telefon erreichbar, liefern die bestellten Bücher mit dem Fahrrad aus oder lassen sie über die Barsortimente im "fulfilment" direkt an ihre Kunden schicken.
Das lässt die Zahl der Bestellungen bei den Barsortimenten trotz rückläufiger Umsätze explodieren, aber auch den Aufwand für Kommissionierung, Verpackung und Versand. Wir sind dankbar dafür, dass wir bei Umbreit deshalb (noch) keine Kurzarbeit anmelden müssen. Wie lange das gut geht, lässt sich nicht vorhersagen; aber es könnte zur Überbrückung reichen, bis die Geschäfte wieder anlaufen und sich das Leben normalisiert.
Ich wünsche uns allen, dass dann die Vielfalt im Herstellenden und im Verbreitenden Buchhandel - und hoffentlich auch im Zwischenbuchhandel - immer noch erfreulich groß ist; denn ich habe diese kulturelle und wirtschaftliche Vielfalt sehr geschätzt, genauso wie die guten, persönlichen Beziehungen mit vielen Menschen in unserer Branche und im Börsenverein.
"Die Auswirkungen werdengrößer sein als nach der Lehmann-Pleite"
Damit bin ich bei einem entscheidenden Punkt dessen, was mich bewegt: Wenn die Unsicherheit, wann der Reif, der sich auf alles Leben und Regen gelegt hat, endlich in der Sonne zum Schmelzen gebracht wird, und wenn das Herunterfahren der Wirtschaft noch lange dauert, werden die Auswirkungen eher der Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945-1953: Der Marshallplan lässt grüßen!) in Europa gleichen, als der "Delle" in der Konjunktur nach der Lehmann-Pleite (2008/2009).
Kredite allein genügen nicht; denn wer soll sie wann und wie zurückzahlen (können)? Die reine Geldvermehrung schafft keine Werte! Darüber reden manche Politiker und Wissenschaftler nun endlich, aber oft eher beschwichtigend als ehrlich, um dann konsequent zu handeln. Die Zeit läuft nicht nur bei der Corona-Prävention gegen uns!
Mit Haus und Garten gehört meine Familie zu den Privilegierten, weil wir uns nicht tagtäglich auf engstem Raum arrangieren müssen. Das schöne Wetter hebt die Stimmung. Finanzielle Sorgen haben wir keine und sind sehr dankbar dafür. Dass wir – mit Ausnahme der Tochter, die zu Hause ist – unsere Kinder und unseren Enkel nur auf Distanz in sozialen Medien hören und sehen, macht uns aber immer mehr zu schaffen. Unsere Urlaube sind storniert, Einladungen werden verschoben oder gekippt, selbst der Friseur ist gestrichen, was ich als Mann mit "lichtem" Haar leicht wegstecken kann. Alle meine Ärzte haben ihre Praxen (noch) nicht geschlossen…
"Auf diese neue Erfahrunghätte ich gerne verzichtet"
Ich vermisse die Gottesdienste mit der Gemeinde. Karfreitag ohne Abendmahl und Ostern ohne Feiern in und um die Kirche (Osterfeuer) werden eine neue "Erfahrung", auf die ich gerne verzichtet hätte. Es gibt zwar viele Angebote der Kirchen und Gemeinden in Rundfunk, Fernsehen und in den (sozialen) Medien; aber sie ersetzen nicht die Gemeinschaft vor Ort. Corona (lateinisch: Kranz, Krone) wird in der Karwoche in mehrfacher Bedeutung zur "Dornenkrone". Da flattert gerade ein Brief von Brockhaus/Commission (an die Partnerverlage) auf meinen Tisch: "Auch 2020 feiern wir Ostern und Auferstehung!"
Wer wollte dem widersprechen? Also feiern auch wir an Ostern die Auferstehung - im Bewusstsein, dass viele Menschen an vielen Orten in vielen kleinen Kreisen mit uns feiern!
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