Jahresbericht des Börsenvereins

Corona war der größte Stresstest für die Branche

28. Oktober 2021
von Börsenblatt

In der Pandemie hat die Branche gezeigt, was sie alles leisten kann: Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis über vier Lerneffekte aus der Corona-Krise – und die großen To-dos auf der politischen Bühne. Ein Interview-Auszug aus dem Jahresbericht des Börsenvereins.

Eineinhalb Jahre Corona liegen hinter uns. Die Pandemie hat die Branche enorm herausgefordert. Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Zeit für die Buchbranche?
Die Corona-Pandemie war der größte denkbare Stresstest für die Branche. Sie hat uns aber vier Dinge ganz deutlich gezeigt: 

  • Das Buch hat unangefochten seinen Platz in dieser Gesellschaft. Die Menschen haben ein großes Bedürfnis nach Büchern, gerade in schwierigen Zeiten. Die Pandemie hat Fragen aufgeworfen: Wie wollen wir unsere Zukunft gestalten? Wollen wir ­materielle Dinge weiterhin als Primat in unserer Gesellschaft akzeptieren? Bücher verhandeln die Fragen, die uns Menschen beschäftigen. Es gibt kein Thema, das diese Welt bewegt und nicht in einem Buch steht. Mit unserem Produkt leisten wir so einen wichtigen Beitrag für die Meinungs- und Willensbildung, für die Inspiration und das persönliche Wohlergehen der ­Menschen. 
  •  Wir haben festgestellt, dass die Strukturen der Branche auch in Krisenzeiten die Produktion und den Vertrieb von Büchern sicherstellen können. Buchhandlungen und Verlage haben ein unglaubliches Maß an Engagement und Kreativität an den Tag gelegt, eine unbändige Leidenschaft, Inhalte zu den Menschen zu bringen. Die Buchlogistik des Zwischenbuch­handels hat perfekt funktioniert. Das unterscheidet uns stark zum Beispiel von einem großen Onlinehändler, der – kaum hatte die Pandemie begonnen – dem Verkauf von Toilettenpapier Priorität eingeräumt und Bücher zurückgestuft hat. 
  • Wir waren digital gut vorbereitet auf die Krise. Aber das muss Ansporn sein, nicht innezuhalten, sondern fort­laufend Investitionen in die täglichen Prozesse nutzbringend zu tätigen.
  • Die Pandemie hat insbesondere gezeigt, wie erfolgsrelevant Kunden­bindung und Kundennutzen sind und wie sie vertieft werden können. Das muss gerade vor dem Hintergrund der schwierigen Innenstadtlage mit besonderer Aufmerksamkeit weiter­entwickelt werden. 
     

Viele Veranstaltungen und ein großer Teil der Verbandsarbeit finden seit Corona virtuell oder hybrid statt – welche Chancen sehen Sie darin?
Wir haben in der Pandemie neue Kommunikationskanäle zu den Mit­gliedern geschaffen, die sich bereits sehr bewährt haben. Diese Formate wie etwa die Feierabend-Dialoge ermöglichen den Mitgliedern den direkten Austausch mit uns und untereinander. Viele dieser Formate werden wir fortführen. Sie erlauben es, ortsunabhängig in kurzer Zeit viele Fragen zu klären und Themen zu besprechen. Als Organisation selbst sehe ich für die Börsenvereinsgruppe die Chance, unser Arbeiten flexibler und mobiler zu gestalten, damit unsere Attraktivität für Arbeitnehmer zu steigern und deren Potenziale noch besser zu mobilisieren. In einer neuen Arbeitswelt, die wir mit allen Kolleg*in­nen zusammen entwickeln, können wir auf individuelle Bedürfnisse besser eingehen. Ich bin davon überzeugt, dass wir so noch effektiver und kreativer im Sinne und Dienste der Mitglieder arbeiten können. Trotz all dieser Vorteile dürfen wir nicht vergessen, wie essenziell der persönliche Kontakt bleibt. Das gemeinsame Arbeiten vor Ort ist nicht ersetzbar. Die Kunst wird es sein, die richtige Kombination aus beiden Welten zu schaffen.

Was waren die zentralen Themen auf politisch-rechtlicher Ebene? Welche Erfolge konnte der Verband verbuchen?
Dass Buchhandlungen in der Pandemie als eine der ersten Einzelhändler wieder öffnen durften, zeigt die hohe Anerkennung, die unsere Branche in der Politik genießt. Ein großer Dank gilt hier vor allem Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die sich unermüdlich für die Belange der Buchbranche starkgemacht hat. Es ist wichtig zu sehen, wie gut unsere Kontakte in die Politik sind und dass wir bezüglich unserer Sorgen und Bedürfnisse auf ein offenes Ohr stoßen. Ein weiterer großer Erfolg war es, dass es uns endlich gelungen ist, die Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaften wieder herzustellen. Das war ein sehr lang­wieriger Prozess, der den Verlagen viel abverlangt hat. Ein kleiner Wermutstropfen dabei ist, dass die Bedingungen schlechter sind als in der Vergangenheit. 

Wir waren digital gut vorbereitet auf die Krise.

Alexander Skipis

Bei welchen Themen sehen Sie ­weiteren Handlungsbedarf?
Die Zukunft der deutschen Buch­branche wird sich durch den Umgang mit dem Urheberrecht entscheiden, und zwar im Hinblick auf staatliches Handeln, aber auch mit Blick auf das eigene Verhalten. Über die vergangenen Jahre sind die Rahmenbedingungen für das geistige Eigentum, das existenzielle Grundlage der Arbeit der Branche ist, immer mehr beschnitten worden. Ein Beispiel: Das Urheberrechts-­Wissensgesellschaftsgesetz, das bereits jetzt nachweislich große Einbrüche auf dem Lehrbuchmarkt verursacht hat, wurde ursprünglich auf fünf Jahre befristet, Bedingung war eine Evalua­tion. In diesem Jahr wurde das Gesetz ohne Evaluation entfristet. Ein anderes drängendes Thema, das wie ein Menetekel vor uns steht, ist die E-Book-Leihe in öffentlichen Bibliotheken. Eine Zwangslizenzierung, wie von den Bibliotheken gefordert, käme einer Teilenteignung der Verlage gleich. Die große Aufgabe für die nächste Legis­laturperiode wird sein, die Rahmen­bedingungen für die Onleihe so zu regeln, dass die Bibliotheken weiterhin ein so breites Angebot an E-Books anbieten und gleichzeitig Verlage und Autor*innen eine angemessene Vergütung erhalten. Generell aber gilt, dass der Wandel in der Gesellschaft mit dem Anspruch auf digitale sofortige Verfügbarkeit, verbunden mit Kostenfreiheit oder jedenfalls minimaler Vergütung, sich auch auf der politischen Ebene vollzieht. Deshalb wird der Kampf um ein faires Urheberrecht, so wie wir es bisher kennen, immer schwieriger (vielleicht aussichtsloser). Dazu brauchen wir einen Plan B, der der Branche trotz sehr schwachem Urheberrecht auskömmliche Erlöse sichert.

Wie kann ein Neuanfang für die durch die Pandemie geschwächten Innen­städte aussehen? Viele Buchhandlungen in A-Lage leiden unter den abnehmen­den Besucherfrequenzen. 
Eine der zentralen Fragen für die Kommunen wird sein, wie die Innenstädte wieder attraktiv werden können. Klar ist jetzt, dass der Einzelhandel neu erfunden werden muss. Der Buchhandel kann eine wichtige Rolle für die Attraktivität übernehmen – mit einem eng­maschigen Netz aus 5 000 Buchhandlungen. Sie sind bereits jetzt perfekte »Dritte Orte«, in denen Begegnung und Austausch stattfindet. Diese können wir zu kulturellen Ereignisorten ausbauen, die Menschen wieder verstärkt in die Innenstädte und Ortskerne ziehen. Wir haben dazu ein Konzept entwickelt und sind mit Organisationen und politisch Verantwortlichen auf kommunaler und Bundesebene im Gespräch. 

Mit der ersten Woche der Meinungsfreiheit im Mai hat der Börsenverein zusammen mit Partnern ein starkes Zeichen gesetzt. Warum ist das ein so wichtiges Thema für die Buchbranche?
Für die Buchbranche sind Meinungs- und Publikationsfreiheit eine Conditio sine qua non. Sie sind die Grundlage dafür, dass Autor*innen ihre Ideen nieder­schreiben, Verlage mit Büchern Debatten anstoßen und Buchhandlungen Titel unterschiedlichster Couleur zu den Menschen bringen können. Damit gestaltet die Branche die Vielfalt und den Meinungsbildungsprozess in der Gesellschaft maßgeblich mit. Daneben haben wir als Börsenverein auch einen dunklen Fleck in der Geschichte. Im »Dritten Reich« haben wir uns in unerträglicher Weise dem Regime angebiedert, unsere Werte verraten und als Handlanger gleichzeitig Leid über viele Menschen gebracht. Wir haben uns aktiv an der Bücherverbrennung beteiligt und viel dafür getan, die Meinungs- und Publikationsfreiheit zu vernichten. Aus dieser historischen Verantwortung heraus ist es wichtig, dass wir uns als Buchbranche für die Freiheit des Wortes einsetzen. 

Wie geht es weiter mit der Aktion?
Mit der Woche der Meinungsfreiheit haben wir ein bleibendes Format geschaffen. Sie soll jährlich vom Tag der Pressefreiheit bis zum Tag des Gedenkens an die Bücherverbrennung in Deutschland stattfinden und schon bald auch international werden. Wir wollen eine große zivilgesellschaftliche Bewegung auslösen, die unüberhörbar für Freiheit, Toleranz und Vielfalt eintritt. Die von uns entwickelte Charta der Meinungsfreiheit ist dabei die inhaltliche Grundlage. Auf sie können sich auch Verfolgte berufen. Wir wollen sie immer bekannter machen, sodass sie ein starkes Zeichen und Instrument für Freiheitsrechte und Demokratie weltweit werden kann. 

WAS MACHT DER BÖRSENVEREIN EIGENTLICH ALLES?

  • Antworten liefert der ausführliche Jahresbericht für das Verbandsjahr 2020 / 2021, der am 15. November auf der digitalen Hauptversammlung des Verbands vorgestellt wird.
  • Online ist der Jahresbericht bereits jetzt abrufbar – und zwar unter www.boersenverein.de/jahresbericht. 
  • Mitglieder des Börsenvereins können den Bericht kombiniert mit dem Finanzbericht unter boersenverein.de/hauptversammlung lesen.
  • Schatzmeister Klaus Gravemann erläutert die Finanzlage der Börsenvereinsgruppe in der Corona-Krise außerdem in einem Interview, das am 4. November im Börsenblatt erscheint.