Die Buchbranche in der Pandemie

"Grausamkeit und Schönheit"

1. Februar 2021
von Charline Vorherr

Marge und Macht, Online-Boom, Klein vs. Groß: Alexander Skipis, Heinrich Riethmüller, Silke Müller und Klaus Bramann debattierten beim Mainzer Kolloquium über die aktuelle Situation des Sortiments.

Jedes Jahr lädt die Abteilung Buchwissenschaft des Instituts für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Universität Mainz in Kooperation mit dem Börsenverein zum Kolloquium ein, bei dem sich Branchenvertreter und Wissenschaftler zu einem aktuellen Thema der Buchbranche austauschen. In diesem Jahr sogar brandaktuell: Sortimenter, Berater und Verleger*innen berichteten über den Einfluss der Pandemie auf die Buchbranche. Nach einer Begrüßung durch Stephan Füssel, bis zum Sommersemester 2020 Lehrstuhlinhaber und Institutsleiter, eröffnete Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis den Vormittag mit einer Lagebeurteilung.

"Ich denke, dass in einer Krise, so wie wir sie jetzt erleben, auch eine Lupe auf eine Gesellschaft gerichtet ist, bei der man plötzlich Entwicklungen, Fragestellungen, Probleme, aber auch das Gute sieht", so Skipis: "Es geht um Grausamkeit und Schönheit." Er legte dem Kolloquium Zahlen von den starken Umsatzrückgängen durch zwei Shutdowns vor und berichtete von Perspektivängsten und dem Verlust der Nähe. "Bei den Verlagen geht es um Umsatzeinbußen von etwa 30 Prozent. Schlimmer ist, dass 50 Prozent der Titel ins nächste Jahr verschoben wurden und sogar in 30 Prozent der Fälle gar nicht mehr kommen. Das ist ein Verlust an Vielfalt in unserer Branche."

Zu den Grausamkeiten zählte Skipis auch die ausgefallenen Buchmessen: "Das war ein extrem schlimmer Schlag für unsere Branche und das Unternehmen Frankfurter Buchmesse." Skipis betonte aber auch die "Schönheiten der Branche" in der Pandemie. "In der Krise zeigt sich der Charakter einer Branche", formulierte er das bekannte Helmut-Schmidt-Zitat weiter. "Es sind Kräfte entfaltet und es ist eine Kreativität freigesetzt worden, die ich so bisher nicht erlebt habe. Buchhändler waren wahnsinnig kreativ, es wurden ganz neue Kontakte geknüpft, neue Kommunikationskanäle, Fahrradkuriere, Abholstationen, Nähe zu den Kunden hergestellt! Es ist eine schöne Sache, zu sehen, was da zusammengewachsen ist. Was uns vereint, ist: Bücher zu den Menschen zu bringen, jenseits der Wirtschaftlichkeit. Das ist eine Verantwortung, die wir haben, und ein wesentlicher Aspekt der Schönheit."

Außerdem warf Skipis Schlaglichter auf den Zwischenbuchhandel, die Lobbyarbeit während der Pandemie, die Zeit der enormen Online-Beschleunigung. Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Buchbranche Vorreiter der Digitalisierung wird: "Wir sind sehr gut aufgestellt mit einem Produkt, das die Menschen lieben, und wir haben Chancen, dies weiterzuentwickeln!"

Im Anschluss an die Einführung durch Alexander Skipis, berichtete das Sortiment von den Erfahrungen des vergangenen Jahres. Zu Gast: Berater Klaus Bramann, Buchhändlerin Silke Müller (Erlesenes und Büchergilde, Mainz) und Osiander-Chef Heinrich Riethmüller.

Berater Klaus Bramann plädierte dafür, die aktuellen Branchenzahlen noch einmal zu sichten, weil er die kleinen Buchhandlungen nicht repräsentiert sehe. Durch seinen Austausch mit unabhängigen Sortimentern habe sich gezeigt, dass sie hohe Umsatzsteigerungen hätten, die in den negativen Zahlen nicht widergespiegelt seien, ähnlich wie in seinem Börsenblatt-Gastspiel "Meine wahren Helden". Er betonte die herausragenden Leistungen und das Engagement vieler kleiner Buchhandlungen: "Von 'Gewinnern des Krisenjahrs' zu sprechen, verbietet sich allerdings. Denn dies entspricht nicht der Mentalität der kleinen Buchhandlungen. Ihnen ist diese Denke fremd und suspekt, die die führenden Köpfe in Hagen, Aachen und Tübingen bewegt. Ihr primärer Antrieb im Geschäft mit Büchern ist nicht die Vergrößerung von Macht und Marge."

Im Anschluss an Bramanns Vortrag meldete sich Heinrich Riethmüller zu Wort, der sich zu diesem Zitat - wurde er doch direkt erwähnt - äußern wollte. Er finde nicht, dass diese Worte mit der Realität seiner Gedanken zusammenpassen: "Man sagt, wir gucken nur auf Marge und Macht. Der ganz große Unterschied ist, ob ich ein Unternehmen mit 400.000 Euro Umsatz und zwei Mitarbeitern führe oder ein Unternehmen mit 400, 500, 600 Mitarbeitern, das in der Regel wesentlich besser bezahlt, als bei den kleinen Buchhandlungen bezahlt wird." Osiander habe im vorletzten Jahr zwölf Buchhandlungen übernommen: "Wir haben überall die Gehälter um 10 bis 20 Prozent angehoben. Das hört sich immer so schön an: Hier die Kapitalisten, die Großen, die nur auf Marge gucken", führte er aus. In seinem Unternehmen habe er genauso viele engagierte, literarisch kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihre Buchhandlung vor Ort voran bringen. "Das sagt sich immer so schnell: Die einen gucken immer schnöde nach Macht und Marge und wir, die anderen, sind für die Kultur zuständig und machen und informieren uns."

Er habe ganz bewusst nicht das Wort "Kultur" benutzt, weil er wisse, dass die Kulturverbreitung über große Fläche durchaus seine Berechtigung habe, entgegnete Bramann. "Mein Tenor war eigentlich anders: Während die Großen ganz anders agieren müssen, zwangsläufig, weil sie eben groß sind, ist es trotzdem eine Denke, die mit den kleinen nicht immer kompatibel ist. Ich wollte eigentlich nichts anderes sagen, als dass die Kleinen dieses Jahr aufgrund ihres persönlichen Engagements extreme Umsatzzuwächse hatten, die die Großen in diesem Jahr eben nicht hatten."

Mehr zu dieser Diskussion können Sie auch im Artikel „Debatte: Ist die Buchvielfalt in Gefahr?“ mit Heinrich Riethmüller und Umbreit-Chef Thomas Bez lesen.

Silke Müller: "Wir sind Teil dieser großartigen Branche"

Im Anschluss stellte Buchhändlerin Silke Müller ihr Pandemiejahr in der Buchhandlung Erlesenes & Büchergilde in der Mainzer Neubrunnenstraße vor. Sie berichtete von einer 400-prozentigen Umsatzsteigerung im Online-Shop, einem frühen Weihnachtsgeschäft und Team-Building durch die extrem anstrengende Situation während den Lockdowns. "Ich spreche bestimmt auch für meine Kolleg*innen in der Branche, wenn ich von dem anstrengendsten Weihnachtsgeschäft aller Zeiten spreche, mit allerhöchstem Kommunikations-, Marketing- und Organisationsaufwand. Allerdings war es auch wunderbar zu erleben, wie viel gelesen wird, wie sehr wir unterstützt werden und wie sehr unsere Arbeit geschätzt wird."

Insbesondere zwei Fernsehauftritte im SWR und Zeitungsartikel seien sehr hilfreich gewesen, die schwierige Situation im Buchhandel nach außen zu tragen. Sie sei sehr froh, in diesem Jahr so viel gelernt zu haben, als Team zusammengewachsen zu sein und ein "Teil dieser großartigen Branche" zu sein. "Trotzdem: Wir freuen uns sehr auf die Zeiten, wenn es wieder Kaffee für und mit unseren Kund*innen gibt!"

 

Heinrich Riethmüller: "Wir haben gelernt, kostenbewusster zu sein."

Am Ende des Sortimenterpanels berichtete Heinrich Riethmüller über das Osiander-Jahr während der Pandemie, der über Nacht zum Online-Händler geworden ist und eine Verdreifachung seines Online-Geschäfts erlebt hat. Da Lieferdienste zusammengebrochen seien, habe man allein am Stammsitz Tübingen mehr als 800 Päckchen mit dem Fahrrad ausgeliefert. Riethmüller erläuterte auch die extremen Anforderungen an die IT, denn durch das Zehnfache an Shop-Zugriffen seien die Server stark belastet worden. Das zentrale Call-Center sei von 10 auf 30 Mitarbeiter aufgestockt worden.

Im Wesentlichen haben sich für ihn drei Aufgabenfelder in der Pandemie ergeben:

  • die Organisation von 70 Filialen in der Pandemie,
  • der Umgang mit den Mitarbeitern und
  • das veränderte Kundenverhalten.

So habe man sich mit einem strikten Kostenmanagement, Kurzarbeitergeld, ungeputzten Filialen, Bank-Verhandlungen und das Aussetzen von Marketing und Veranstaltungen durch die Krise manövriert. Mit den Mitarbeitern im Filialbereich habe man Telefonate geführt, Briefe verschickt. Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld seien ausgesetzt worden, um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden. Eine steuerfreie Sonderzahlung von 1.200 Euro habe man am Ende dennoch ausgezahlt.

"Wir haben gelernt, kostenbewusster zu sein. Unsere Mitarbeiter mussten in 20 Prozent Kurzarbeit gehen und alles funktioniert trotzdem irgendwie. Viele liebgewonnenen Dinge braucht man nicht mehr zu realisieren. Das fängt mit Vertreterbesuchen an. Ich halte sie immer noch für extrem wichtig, aber das hat telefonisch wunderbar funktioniert und nur die halbe Zeit gebraucht." Einen großen Unterschied in der Pandemie sah er zwischen den kleinen und großen Filialen. Besonders die zwei Kinderbuchhandlungen seien mit sehr guten Umsätzen aus dem Jahr gekommen, aber auch die anderen kleinen Filialen hätten "geboomt". Schwerer sah es für Osiander hingegen an der Schweizer Grenze, den großen Filialen und im Semestergeschäft aus. Die Universitätsfiliale in Konstanz habe nun komplett geschlossen.

Auch Osiander erlebte ein vorgezogenes Weihnachtsgeschäft mit einer Steigerung des Bonumsatzes von 20-30 Prozent und einer geringen Verweildauer in den Geschäften, resümierte Riethmüller. Die wirtschaftliche Bilanz: 16 Millionen Euro Umsatz-Verlust im stationären Sortiment, 5,5 Millionen Umsatz mehr im Online-Bereich.