Debüts des Monats - April 2022

Ferienjob mit Folgen

11. April 2022
von Matthias Glatthor

"Ein französischer Sommer" von Francesca Reece ist kein Heile-Welt-, aber ein spannender Sommerroman mit Esprit. Leah treibt nach ihrem Studium durch Paris, ergattert beim Star-Autor Michael einen Job als Assistentin. Sie soll die Tagebücher seiner Studienzeit abtippen, in der Ferienzeit in seiner Villa an der Côte d’Azur. Warum hat er gerade sie ausgewählt?

Paris, 2016: Die 24-jährige Britin Leah, aus normalen Verhältnissen stammend, hangelt sich nach ihrem Literatur-Studium in England, mehr schlecht als recht und ohne großen Ehrgeiz als Expat in Paris durch. Dort hatte sie ein Auslandssemester verbracht und ihre wichtigste Entdeckung gemacht: den Sex. Nun streift sie erneut durch die Stadt an der Seine, beschreibt geistreich, frech und mit erfrischendem Spott die Menschen um sich herum. Darunter viele Mitzwanziger aus reichem Elternhaus, die in Paris ein abgesichertes Boheme-Leben führen. Sie besucht etwa ein Café, "in dem junge Männer in blauen Hemden und roten Chinos mit herrlich strubbeligem Haar und makelloser Kieferpartie über die Europäische Union und Praktika in New York redeten".

Dann kommt ein Wendepunkt: Als der knapp 70-jährige, britische Star-Autor Michael Young, der seit Jahrzehnten kein Buch mehr verfasst hat, per Anzeige eine Recherche-Assistentin für seinen nächsten Roman sucht, greift Leah zu. Sie soll zwei Jahrgänge seiner Tagebücher aus den späten 60er Jahren sichten und abtippen. Es geht um Michaels junge Jahre in London und mehrere Monate in Athen (zur Zeit der Militärjunta).

Warum gerade sie, fragt sich Leah? Was sie zunächst nicht weiß: Der Hauptgrund für ihre Anstellung ist, dass sie seiner Jugendliebe Astrid bis aufs Haar gleicht. Francesca Reece, 1991 in Wales geboren, erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Ich-Perspektive der beiden Protagonisten. An die Kapitelenden setzt sie geschickt Cliffhanger, die einen immer weiterlesen lassen wollen. Hervorzuheben sind zudem die auf den Punkt gebrachten, launigen Ortsbeschreibungen – etwa von Marseille (S. 272). Auch den selbstgefälligen, misanthropischen Michael ("für ihn sind wir nur Rohmaterial", sagt einmal einer seiner 'Freunde') fängt sie stilistisch überzeugend ein. Leahs Anblick löst in ihm eine scheinbar selbstquälerische Rückschau aus, bei der alte Wahrheiten durch neue überlagert werden, wie er es einmal selbst formuliert.

Die Arbeit führt Leah über den Sommer mit Michaels Familie und Freunden in deren Feriendomizil in Saint-Luc am Mittelmeer, nahe Marseille. Der pure Sommertraum. Ein Cocktail aus Drogen, Alkohol, Liebesgeplänkel mit dem Franzosen Jérôme und Michaels Sohn Lawrence sowie Avancen Michaels erwarten Leah dort. Das hat einen verschärften Eric Rohmer-Touch. Die Tagebücher mit verstörend "qualvollen pornografischen Passagen" (die nicht zitiert werden) zeigen ihr einen anderen Michael. Bei der Lektüre erfährt Leah immer mehr über ihn, entdeckt Unstimmigkeiten – ein großes Fragezeichen bleibt das Schicksal Astrids. Hier verbirgt ihr Gastgeber ein dunkles Geheimnis. Leah wird immer tiefer in den Familien-Strudel gezogen. Die anfängliche, bourgeoise Sommeridylle mit Familie und Freunden bröckelt immer mehr ab, ein Paukenschlag lässt sie schließlich endgültig bersten. Ein starkes Debüt, das einen sofort in den Bann zieht – und bis zur letzten Seite nicht loslässt.

Francesca Reece: "Ein französischer Sommer", übersetzt von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler, S. Fischer, April, 448 S., 24 €