Margit Ketterle über das neue Forum für Meinungsfreiheit

Der Maßstab: Davos

27. Januar 2022
von Sabine Cronau

Das neue World Expression Forum soll zur internationalen Bühne für das Thema Meinungsfreiheit werden. Margit Ketterle, bei Droemer Knaur Verlagsleiterin fürs Sachbuch, gehört seit Januar 2022 dem WEXFO-Vorstand an – und gibt hier einen Einblick in den Maschinenraum des Großprojekts.  

Lasst uns das Thema Meinungsfreiheit endlich so groß denken, wie es ist! Auch das Weltwirtschaftsforum in Davos war nicht von Anfang an das, was es heute ist.

Margit Ketterle, Vorstandsmitglied beim World Expression Forum

Weltweit gibt es eine ganze Reihe von Organisationen, die sich für Meinungsfreiheit stark machen – wie den PEN oder den internationalen Verlegerverband IPA. Warum hat das neu gegründete World Expression Forum, kurz WEXFO, trotzdem noch gefehlt? 
Weil es gar nicht genug Plattformen geben kann, um für Meinungsfreiheit einzutreten – die weltweit immer stärker unter Druck gerät. Nicht nur in autoritären Systemen, sondern auch in den westlichen Demokratien gibt es Probleme, über die wir dringend reden müssen. Das WEXFO soll das Thema Meinungsfreiheit auf der großen Bühne sichtbar machen. 
 

Was kann das WEXFO, was andere nicht können?
Was mich am WEXFO besonders begeistert, ist der Anspruch, dass Meinungsfreiheit genauso wichtig für die Gesellschaft ist wie eine florierende Wirtschaft. Das »Davos der Meinungsfreiheit« – als die beiden norwegischen Initiatoren, Kristenn Einarsson (Freedom to Publish, IPA) und Mads Nygaard (Verleger von Aschehoug), diese Vision formuliert haben, da dachte ich sofort: Ja, genau das ist es! Lasst uns das Thema endlich mal so groß denken, wie es ist! Auch das Weltwirtschaftsforum in Davos war nicht von Anfang an das, was es heute ist.

Bei der Gesellschafterversammlung im Januar sind Sie in den WEXFO-Vorstand gewählt worden. Was steht im neuen Ehrenamt auf der To-do-Liste?
Ich will meine vielen Kontakte in die internationale Verlagsszene einbringen und Kolleginnen und Kollegen weltweit für das WEXFO begeistern. Abgesehen davon ist Meinungsfreiheit eines meiner politischen Anliegen und die Voraussetzung unseres täglichen Tuns in der Branche: Wir machen uns das zu wenig bewusst.

Empfinden Sie als Sachbuchverlegerin auch eine besondere Verantwortung für das Thema?
Unbedingt. Denn wenn wir über Meinungsfreiheit reden, müssen wir zwischen Meinung und Fakten sorgsam unterscheiden. An Fakten führt kein Weg vorbei, sie sind die Basis eines jeden guten Sachbuchs – auch wenn es meinungsstark ist. Als Büchermacherin möchte ich Autorinnen und Autoren, die sich mit Meinungsfreiheit, Demokratie und verwandten Themen auseinandersetzen, zur Mitarbeit beim World Expression Forum bewegen – nicht nur aus unserer Verlagsgruppe. 

Ist das WEXFO vor allem ein Forum für die Buchwelt?
Keimzelle ist die Buchbranche – aber letztlich ist Meinungsfreiheit die Grundlage jedes künstlerischen Schaffens. Das World Expression Forum soll alle zusammenbringen: Journalist:innen, bildende Künstler und Theaterleute, aber auch andere Berufsfelder, für die Meinungsfreiheit existenziell ist, etwa Werbeagenturen und Anwälte.

Das World Expression Forum tagt erstmals am 30. und 31. Mai im norwegischen Lillehammer – analog und digital. Warum sollten deutsche Verleger:innen und Buchhändler:innen teilnehmen, zumindest am Bildschirm?
Weil es eine einmalige Gelegenheit ist, um sich international zu vernetzen und einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Zu den großartigen Gästen gehören etwa Kolleginnen und Kollegen der russischen Organisation »Memo­rial«, die sich für politisch Verfolgte und die Aufarbeitung der Sowjetzeit einsetzt und jetzt zur Auflösung gezwungen wird. Und der Sohn von Jimmy Lai, dem in Hongkong inhaftierten Verleger.

Zudem die beiden Journalisten Maria Ressa und Dmitri Muratow, die 2021 den Friedensnobelpreis bekommen haben. Auch Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah wird beim WEXFO auftreten – und danach beim Literaturfestival in Lillehammer lesen, das im Anschluss an die Tagung stattfindet.

Ist die Tagung das Herzstück? Oder wird es rund ums Jahr Aktionen geben?
Das WEXFO ist ja erst im August 2021 gegründet worden – im Moment bauen wir also das Flugzeug, während wir schon fliegen. Der jährliche zweitägige Kongress Ende Mai soll in der Tat das Herzstück sein. Aber natürlich wollen wir uns nicht darauf beschränken. In Arbeit ist beispielsweise eine große Initiative für die junge Generation – um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Meinungsfreiheit nicht vom Himmel fällt und selbst in einer Demokratie immer wieder verteidigt werden muss. Also politische Bildung im weitesten Sinne.

Welche aktuellen Gefahren sehen Sie in den westlichen Demokratien für die Meinungsfreiheit?
Ein großes Thema ist für mich der digitale Überwachungskapitalismus, die Preisgabe unserer digitalen Selbstbestimmung. Wir werfen unsere Daten den großen Plattformen in den Rachen – und es entstehen Monopole, die am Ende unsere Meinung und unser Handeln bestimmen. Verschwörungstheorien gibt es nicht erst seit Corona. Durch den Digitalisierungsschub in der Pandemie werden sie allerdings besonders wirksam – weil Facebook, Twitter und Co. durch ihre Algorithmen die Hetze, nicht die Meinungsbildung befördern. Hier gibt es dringenden Diskussions- und Handlungsbedarf.

Im Moment bauen wir das Flugzeug, während wir schon fliegen.

Margit Ketterle

Wie wollen Sie erreichen, dass die Botschaften des WEXFO in der Weltöffentlichkeit auch ankommen?
Na ja – damit hat ja selbst die Uno schon Probleme! Aber klar ist: Je mehr Teilnehmer:innen aus Verbänden, Verlagen, Buchhandlungen, aus Medien, Künsten und betroffenen Berufen mitmachen, desto größer werden die Kreise sein, die das WEXFO zieht. Was uns hilft, sind engagierte Kolleginnen und Kollegen in aller Welt, die unsere Anliegen teilen und weitertragen.

Der Börsenverein feiert jährlich die Woche der Meinungsfreiheit. Eröffnet das WEXFO die Chance, daraus eine weltweite Aktion zu machen?
Unserer Woche der Meinungsfreiheit beginnt am 3. Mai dem internationalen Tag der Pressefreiheit, und endet am 10. Mai, dem Tag der Bücherverbrennung. Das ist ein sehr deutsches Datum. Aber natürlich freuen wir uns auf Gäste aus Norwegen oder anderen Ländern, die sich mit uns für die Meinungsfreiheit engagieren.

Seit November sind Sie auch Co-Sprecherin der IG Meinungsfreiheit im Börsenverein. Was beschäftigt Sie hier mit Blick auf die deutsche Buchbranche?
Gerade bereiten wir uns auf die Leipziger Buchmesse vor, daneben gibt es andere aktuelle Themen: Wie halten es Verlage mit Sensitivity Reading und Trigger-­Warnungen in Büchern? Bevormunden sie die Leser, wenn Bücher im Nach­hinein umgeschrieben und bestimmte Wörter gestrichen werden? Jeder Verlag muss dazu seine Position finden – aber auch wir als IG Meinungsfreiheit sind hier gefordert. Ich persönlich plädiere für Umsicht und Differenzierung: Die Gesellschaft verändert sich, und mit ihr die Sprache. Schwarz-Weiß-Denken bringt uns nicht weiter. 

WORLD EXPRESSION FORUM

  • Im August 2021 auf norwegische Initiative hin gegründet, soll das neue World Expression Forum, kurz WEXFO, die Meinungsfreiheit weltweit stärken. 
  • Organisiert ist das WEXFO als gemeinnützige GmbH mit derzeit 52 Anteilseignern, darunter der Börsenverein. Auch Verlage und Buchhandlungen können für rund 2 500 Euro einen Anteil erwerben. 
  • Herzstück ist eine Tagung in der Unesco-Literaturstadt Lillehammer, die 2022 erstmals stattfindet – und zwar am 30. und 31. Mai. Zu den Keynote-Speakern der analogen und digitalen Konferenz gehört Literaturnobelpreis-träger Abdulrazak Gurnah.
  • Anmeldung und Details gibt es online unter www.wexfo.no.