Stellenmarkt

Ganz nebenbei etwas wagen

27. Mai 2022
von Veronika Weiss

Unternehmertum neben einem festen Job ist perfekt für Risikoscheue, die sich dennoch gern ausprobieren wollen. Veronika Weiss berichtet von ihren Erfahrungen damit. 

»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust …« Ein wenig abgeschmackt, mit diesem Zitat zu beginnen, oder? Aber es passt hier so gut, denn ich liebe einerseits die weltliche Sicherheit meiner Festanstellung, andererseits war da irgendwann das dringende Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung, ein Streben nach »Höherem« sozusagen. Ich habe eine Möglichkeit gefunden, dem nachzugeben, und zwar ohne existenzielles Risiko: durch ein »Sidepreneurship«.

Was bedeutet das? Noch nicht mal der Duden kennt diese neue Wortschöpfung. »Entrepreneurship« schon: Das bedeutet im angesagten Wirtschaftsjargon Unternehmertum. Und wenn man eine Firma aufbaut, während man in einem anderen Job tätig ist, nennt sich das eben Sidepreneurship.

Vor- und Nachteile

Zwar bin ich im denkbar kleinsten Rahmen Nebenbei-Unternehmerin, nämlich als Freiberuflerin – Lektorin und Texterin. Allerdings ist es für mich mehr als eine kleine Sache; nach vielen Jahren in einer Festanstellung gleicht mein Unternehmertum einem Abenteuer. Ich habe mich auf den freien Markt getraut, stehe für mich selbst ein. Plötzlich bin ich eine Art Marke, die präsentiert werden will. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen, und verantwortlich fürs Gelingen bin ich ganz allein. 

Verglichen damit sind Mitarbeitende großer Unternehmen »nur« kleine Puzzleteile mit mehr oder weniger Einfluss auf das ganze Bild. Was von oben beschlossen wird, muss ausgeführt werden – zumindest in hierarchisch geführten Häusern. Man verkauft nicht unbedingt seine Seele, aber ein Stück Individualität und Integrität schon. Dafür gibt es einen festen Vertrag, finanzielle Sicherheit, verlässliche Rentenvorsorge, einen geprüften Arbeitsplatz mit den entsprechenden Mitteln sowie Menschen, die sich kümmern, wenn mal etwas hakt. Und die Verantwortung dafür, dass der Laden läuft, liegt bei jemand anderem.

Wenn der Wunsch nach Veränderung aber drängt und ein Hauptjob trotzdem weiterhin Sicherheit bieten soll, dann winkt das Sidepreneurship. Wussten Sie, dass eine korrekt beantragte Nebentätigkeit unter normalen Umständen bewilligt werden muss, solange sie keine Konkurrenztätigkeit darstellt? Jeder in Deutschland fest angestellte Mensch kann sich also auf einem anderen Gebiet ausprobieren – das ist doch genial! Und jede Freiberuflerin und jeder Freiberufler kann sich einen festen Job für die Sicherheit suchen. 

Gefühl von Freiheit

Diese Zeilen tippe ich im Zug, an meinem rein freiberuflichen Tag. Die Fahrt nutze ich zum Arbeiten – und natürlich zum Rausschauen und Mich-glücklich-Fühlen. Denn der Ausblick, das leise Rattern des Zugs auf den Gleisen und die verhaltenen Gespräche rundherum riechen für mich nach Freiheit. Nach Start-up und Flexibilität. Ob mir das zu 100 Prozent liegt? Das kann ich noch nicht sicher sagen. Morgen bin ich wieder im Verlag, logge mich ins Zeiterfassungssystem ein, weiß ungefähr, was mich erwartet, kenne und schätze die Kolleg:innen und kann mich auf den Kontoeingang am Monatsende verlassen. Die Kombination aus beidem ist kein Pakt mit dem Teufel, sondern eine ganz eigene Art von Luxus.

UNSERE KOLUMNISTIN

Veronika Weiss (37) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung arbeitet sie in Hamburg als Lektorin in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) und nebenbei frei als Texterin. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.