Karriere

Wie Freibad fürs Gehirn

23. Juni 2023
von Veronika Weiss

Zwischendurch mal lockerlassen und einer Ablenkung nachgeben ist normal und kann sehr guttun. Deswegen sollten wir uns nicht schlecht fühlen.
 

Ja, konzentriertes Arbeiten ist eine Tugend, Multitasking nicht ideal – das hatten wir alles schon. Aber es gibt manchmal Tage, an denen es einfach nicht klappt mit dem konsequenten Abarbeiten von To-dos. An denen die Gedanken im Raum umherschwirren, vom Manuskript zum Fensterputzen, von der nächsten Abgabe zu den Wochenendplänen, vom Buchprüfen zum letzten Gespräch mit Bekannten. Solche Phasen vergehen bei den meisten Menschen auch wieder (sonst müsste man schwerere Geschütze auffahren). Während dieses Zustands allerdings dagegen anzukämpfen und trotzdem krampfhaft ein zentrales Muss-Thema verfolgen zu wollen, das ist zwecklos, denke ich.
Heute ist bei mir so ein Tag. Morgens habe ich konzentriert an einem Text gearbeitet, danach kippte die Stimmung. Erst kam die Müdigkeit. Ein Schläfchen und eine kleine Tasse starken Kaffees sollten helfen, aber nichts da: Das Koffein schoss ein, mein Puls ging hoch, meine Gedanken waberten umher, ich wurde hibbelig – und bin es noch immer. Nun habe ich vier Word-Dokumente offen, dazu mein Mailprogramm, WhatsApp und LinkedIn – außerdem YouTube. Google hatte einfach ein zu interessantes Doodle, da musste ich dringend nachlesen, wer dieser Willi Ninja war. Ich habe gelernt, dass Voguing ein Tanzstil ist. Total spannend!

Seitenblicke riskieren

Und warum sollen wir uns in solchen Momenten der faszinierenden Vielfalt des Lebens verschließen? Es lohnt sich absolut, 20 Minuten des eigenen Lebens in Voguing oder sonstiges vermeintlich unnützes Wissen zu investieren! Ist ja nichts anderes als Horizonterweiterung, regt das kreative Denken an, bringt kleine Erkenntnisse, die Spaß machen und unser Gehirn fit halten. Man kann nie wissen, wozu eine bestimmte Information vielleicht mal gut ist. Irgendwo gibt es immer Querverbindungen, und nicht nur Menschen, sondern auch Thematiken trifft man doch im Leben immer zwei Mal – mindestens.

Motivationsschub

Als Freiberuflerin kann ich mir dieses Gedankenschweifen natürlich selbst erlauben. Wer mit sich allein im Kämmerlein ist, hat ohnehin weniger Ablenkung als jemand in größeren Büroräumen. Innerhalb eines Teams geht es automatisch mal bunter zu, da gibt es Kuchen oder der neueste Klatsch wird ausgetauscht, man kommt von einem Thema zum nächsten. Solche Momente sind wichtig! Nach ein wenig Ablenkung können wir viel konzentrierter weiterarbeiten und nehmen durch die erfreuliche Abwechslung einen Motiva­tionsschub mit an den Schreibtisch.

Solche Freiräume zuzulassen und positiv zu nutzen, gelingt nur, wenn nicht zu viel Druck herrscht, wenn uns keine schwierigen Termine oder Abgaben im Nacken sitzen. Da gibt es dann keinen entspannten Blick nach rechts und links oder über den Tellerrand. Das passiert natürlich trotzdem mal, ungünstigerweise. Dem können wir vorbeugen, indem wir uns ab und zu bewusst eine kleine und schöne Ablenkung gönnen. Ein bisschen Freibad fürs Gehirn, erholsames Nichtstun oder Quatschmachen. Das tut einfach gut, entspannt, ist gesund und bereitet einen fruchtbaren Boden für Kreativität. 

UNSERE KOLUMNISTIN

Veronika Weiss (38) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) in Hamburg arbeitete sie dort als Lektorin. Seit 2021 ist sie frei als Texterin und Lektorin tätig. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.