Philippinen - Ehrengast der Frankfurter Buchmesse

"Hier nimmt keiner ein Blatt vor den Mund"

26. Juni 2025
Holger Heimann

Auf den Philippinen wachsen die sozialen Ungerechtigkeiten. Ein dominierendes und nicht ungefährliches Thema für Autor:innen und Journalist:innen. Eine Reportage aus dem Gastland der Frankfurter Buchmesse.

Der Solidaridad Bookshop bietet eine für die Philippinen beachtliche Auswahl.

Manila ist lebendig und laut. Ein Angriff auf die Nerven von Besuchern. Tag und Nacht dröhnt ein schier endloser Autokorso durch die Stadt. 14 Millionen Menschen zählt Metro Manila, ein Konglomerat von 17 vormals eigenständigen Städten. Quezon City ist eine der eingemeindeten Metropolen. Hier lebt und arbeitet einer der bekanntesten Schriftsteller der Philippinen: Jose Dalisay. Sein Haus steht auf dem Campus der staatlichen Universität, wo der 71-Jährige noch immer unterrichtet, umgeben von Mangobäumen und Vogelgezwitscher. "Es ist ein kleines Stück Paradies, obwohl es im Paradies immer Probleme gibt", sagt der Hausherr. 
 

Die Zeit nach der Militärdiktatur

Die Probleme seines Landes sind es, von denen Jose Dalisay in seinen Büchern erzählt. In seinem Debütroman "Killing Time in a Warm Place", der im Vorjahr in deutscher Übersetzung erschien, kehrt Dalisay zurück in die Zeit der Militärdiktatur von Ferdinand Marcos. Als Studenten gegen das Regime aufbegehren, verhängt der mächtigste Mann des Landes 1972 das Kriegsrecht und lässt die Aufrührer verfolgen. Viele arrangieren sich mit dem System. Es sind die Erfahrungen des Autors und die seiner Freunde, die in den Roman einfließen. Dalisay erzählt eine Geschichte von großen Plänen und enttäuschten Hoffnungen, von Schuld und Scham. Mit wenigen kraftvollen Strichen zeichnet er ein so eindrucksvolles wie entlarvendes Porträt einer zynischen Gesellschaft, die durch ein eng geknüpftes Netz aus Patronage und Abhängigkeiten bestimmt wird.

Jose Dalisay hat seinen bis heute erfolgreichsten Roman 1986 in den USA zu schreiben begonnen, kurz nach dem Sturz des Marcos-Regimes. Es sei eine Zeit der Hoffnung gewesen auf einen echten Wandel im Land. Doch die Revolution von 1986 hat mehr versprochen als sie einlösen konnte. Zwar hat sie Redefreiheit gebracht und die Zivilgesellschaft gestärkt, aber die extreme soziale Ungleichheit im Land ist geblieben. Fest gefügte Strukturen und machtvolle Traditionen bestehen fort. Nur so ist es zu erklären, dass heute der Sohn von Ferdinand Marcos Präsident des Landes ist. "Philippinische Politik ist im Wesentlichen Familienpolitik, es ist dynastische Politik", sagt Dalisay. 

Jose Dalisay

In Manila wird es früh dunkel: Der Schriftsteller Jose Dalisay im Garten vor seinem Haus.

Philippinische Politik ist im Wesentlichen Familienpolitik, es ist dynastische Politik.

Jose Dalisay

Korruption und politische Eliten

Viele der jetzt ins Deutsche übertragenen Bücher setzen sich kritisch mit den Zuständen auf den Philippinen auseinander. Diese Literatur bedient keine Fluchtimpulse, sondern konfrontiert mit der Wirklichkeit, thematisiert Korruption und Machtmissbrauch der politischen Eliten, die zunehmende Kluft zwischen Armen und Reichen. Ängstliche Zurückhaltung oder Selbstzensur scheint an keiner Stelle auf.

"Das ist eine der Paradoxien des Schriftstellerdaseins auf den Philip­pinen. Wir gehören zu den gefährlichsten Orten der Welt für Journalisten, zumindest war das noch vor einigen Jahren so", sagt Jose Dalisay. "Dennoch nimmt hier keiner ein Blatt vor den Mund. Insbesondere wir Romanautoren haben keine Angst davor, kritisch über die Regierung zu schreiben." 

Für Jose Dalisay ist es geradezu essenziell, dass seine Literatur in der philippinischen Gegenwart verankert ist, nicht nur auf dem Boden, sondern "im Schlamm", wie er sagt. Doch er weiß, dass es nicht in erster Linie Romanautoren sind, die mit ihren Büchern für Aufklärung sorgen. "Die wahre Avantgarde des Protests sind Journalisten. Romanautoren und Dichter sind sicher. Denn niemand liest uns. Die Regierung ist ungebildet, die Regierung versteht keine Metaphern."
 
Der Regierung mag es tatsächlich an literarischer Bildung fehlen, Untersuchungen dazu gibt es nicht. Vielen Filipinos mangelt es jedoch erwiesenermaßen an ganz grundlegenden Kenntnissen. Das hat im Vorjahr eine breit angelegte Studie ergeben. 19 Millionen Menschen im Land zwischen zehn und 64 Jahren sind funktionale Analphabeten, das sind 30 Prozent der Altersgruppe. Aber Bücher stehen auch bei denen, die lesen können, nicht hoch im Kurs. Außerdem sind sie vergleichsweise teuer. Ein Buch kostet oft so viel, wie ein Filipino an einem Tag verdient. Beliebt sind hingegen Plattformen wie Facebook und TikTok, nicht selten sind sie eine Quelle von Fehlinformationen. 

Eine literarische Institution: Der Solidaridad Bookshop in Manila gilt als eine der besten kleinen Buchhandlungen Asiens

Journalistischer Ehrenkodex

Das Onlinemedium Rappler ist so etwas wie die Speerspitze des kritischen Journalismus auf den Philippinen. Die Redaktion befindet sich in einem der oberen Stockwerke eines Bürogebäudes in Pasig City, einem Stadtteil im Osten von Metro Manila voller Hochhäuser und gläserner Einkaufszentren. Vor der Tür steht ein Wachposten. Der supermoderne, große Newsroom dahinter wird nur durch einige Glaswände unterteilt, darauf ist in bunter Schrift eine Art journalistischer Ehrenkodex festgehalten: "Fact Checking" steht da zum Beispiel und an anderer Stelle "Hold the Line" und "Courage on March". 
Maria Ressa, Gründerin von Rappler, wurde 2021 für ihren Einsatz für Meinungsfreiheit und Demokratie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die zahlreichen Verfahren und Prozesse, die in ihrer Heimat gegen sie angestrengt wurden, um Rappler aus dem Verkehr zu ziehen, haben sie nur angespornt. "Ich wäre beinah im Gefängnis gelandet, es könnte immer noch geschehen. Aber ich habe Glück im Vergleich zu einigen Journalisten, die gestorben sind."
 

Ich wäre beinah im Gefängnis gelandet, es könnte immer noch geschehen. Aber ich habe Glück im Vergleich zu einigen Journalisten, die gestorben sind.

Maria Ressa

Die resolute, kleine Frau redet nicht gern über sich und darüber, welche Vorkehrungen sie zu ihrer Sicherheit treffen muss. Viel lieber und mit Verve spricht sie über die Gefahren durch Desinformation – und zwar weltweit. Ihr Buch "How to Stand Up to a Dictator" (Quadriga, 2022) beschäftigt sich zwar vor allem mit der Situation auf den Philippinen, aber gedacht ist es als Mahnung auch an die westliche Welt. Der philippinische Fokus ist Ressa zu eng. "Es ist ein harter Kampf, sich gegen einen Fluss aus Lügen zu behaupten", sagt Ressa. Sie glaubt, der Westen könne von den Philippinen viel lernen.

ZAHLEN UND FAKTEN

  • Titelzahl 2023: 10.300
  • Umsatz 2023: 45,7 Millionen US-Dollar
  • Die größten Buchhandelsketten führen deutlich mehr importierte Titel (überwiegend aus den USA und Großbritannien) als Bücher einheimischer Autoren (Verhältnis: 24:1). Das ist die Folge eines Handelsgesetztes, das die ehemalige Kolonialmacht USA durchgesetzt hat, bevor die Philippinen unabhängig wurden. Das Gesetz definierte den philippinischen Buchmarkt als eine Erweiterung des US-Marktes.  
  • Der 1964 gegründete Solidaridad Bookshop gilt als eine der besten kleinen Buchhandlungen Asiens. Der Laden befindet sich noch immer im Familienbesitz und ist auf philippinische Literatur spezialisiert.
  • Anlässlich der Frankfurter Buchmesse wurden mehr als 120 philippinische Titel in andere Sprachen übersetzt (zumeist aus dem Englischen), 27 Titel wurden ins Deutsche übertragen. Viele philippinische Autoren schreiben auf Englisch, das neben Filipino zweite Amtssprache des Landes ist. Insgesamt gibt es auf den Philippinen über 180 verschiedene Sprachen und Dialekte.